Meine Kinder haben mir beigebracht, dass Bremen von Menschen gegründet wurde, die auf Kähnen die Weser entlang fuhren, bis sie eine Stelle fanden, die gut zu besiedeln wäre. Dort steht heute der Bremer Roland. So hat alles begonnen. Damals. Diese Verbindung von Fluss und Stadt, Handel und vitalem Bürgersinn, Weltoffenheit und Heimat, Vielfalt und hanseatischer Bescheidenheit: buten und binnen … das ist es, was die Bremer Identität ausmacht.
Städtebaulich wurde diese Idee in der Nachkriegszeit zerstört. Man hielt es damals für modern, die historische Innenstadt durch eine vierspurige Autostraße vom Fluß zu trennen. Die Stadt sollte autogerecht werden – das war die neue große Idee. Nach diesem austauschbaren Leitbild wurden alle deutschen Städte nach ihrer Zerstörung wieder aufgebaut. Das menschliche Maß, die gewachsenen Verbindungen, das urbane Gepräge, das sich über Jahrhunderte entwickeln konnte, wich – dem Auto.
Heute stehen wir an einem ähnlichen Wendepunkt. Denn heute wird das Auto ersetzt durch vernetzte Mobilität. Diese Mobilität wird in wenigen Jahren unabhängig vom Besitz eines Fortbewegungsmittels sein und deshalb im Vergleich zu heute schnell sein, effizient, einfach, günstig und komfortabel. Stadtplaner*innen sind sich einig, dass eine neue Ära für unsere Städte anbricht, die getrieben von Digitalisierung, demografischem Wandel und den Veränderungen durch den Klimawandel, den öffentlichen und privaten Raum vollkommen neu organisieren wird.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir in Bremen die Dimension dieser Aufgabe bereits verstanden haben. Ja, in einer idealen Welt gäbe es keine Zielkonflikte und die Domsheide könnte am Reißbrett neu gestaltet werden. Dann würde die Straßenbahn vielleicht nicht vor der Glocke halten. Doch die Realität ist eine andere: Keine Haltestelle vor der Glocke bedeutet die Verschiebung der Haltestelle in die Balgebrückstraße. Damit wäre eine Verlegung der Gleise in die Martinistraße zwingend – verbunden mit einem Preisschild von mindestens 50 Millionen Euro und dem luftigen Versprechen, dass dann alles auf wundersame Art und Weise gut wird.
An diesem Punkte sollte man einmal innehalten. All das sind wichtige Fragen, die aber dennoch viel zu kurz greifen und sich im Klein-Klein verlieren. Denn die Aufgabe vor der wir stehen ist viel größer als die Notwendigkeit, den Autoverkehr zu reduzieren und aus der Innenstadt herauszunehmen. Die Aufgabe ist auch größer als die Frage, wo die Straßenbahn hält. Es geht um nichts weniger als eine neue Identität für unsere Stadt – eine in die Zukunft gerichtete Idee, die das Potenzial hat, Bremen neu zu formen. Wir dürfen uns mit nichts weniger zufrieden geben, als dem großen Wurf.
Das ist mein Anspruch an Politik im Allgemeinen und Grüne Politik im Besonderen.
Wir stehen in Bremen kurz davor, in einer fatalen Mischung aus Besitzstandswahrung, politischem Gerangel und verzweifeltem Festhalten an alten Geschäftsmodellen eine historische Chance zu verspielen.
Dabei liegt mit der von dem Büro Urban Catalyst entwickelten „Strategie Centrum Bremen 2030+“ eine erste Skizze und ein umfangreicher, konkreter Maßnahmenkatalog vor, der viele richtige und sinnvolle Projekte enthält, die miteinander zu einem Gesamtbild verwoben sind: Die Universität an den Brill, aus dem Wall einen Boulevard machen, der den Namen verdient, neue Bündnisse mit Investor*innen schließen, günstigen Wohnraum in der Innenstadt schaffen, Kulturorte, Räume für junge Menschen … auch wenn das Papier an einigen Stellen zu zaghaft ist und bereits jetzt Schleifspuren aus dem Politikbetrieb aufweist: Ein Blick in die 58 Seiten lohnt sich – denn er zeigt, dass es keinen Mangel an Ideen gibt.
Woran mangelt es dann?
Es mangelt an einer Ernsthaftigkeit der Debatte.
Es wird Zeit verspielt.
Und – am bedeutsamsten: Niemand wagt es, den Elefanten im Raum – oder besser: der Innenstadt – zu benennen.
„Die Politik“ alleine wird die Innenstadt nicht retten. Sie kann aber etwas sehr Entscheidendes tun: alle Menschen und Institutionen miteinander verbinden, die konkrete Interessen in der Innenstadt haben.
Ja, die Universität soll eine Dependance am Brill eröffnen. Aber hat denn schon mal jemand dort nachgefragt, was die Uni dort eigentlich jenseits des reinen Lehrbetriebs will – außer Studierende in die lokalen Cafés zu spülen und die Stadt zu beleben? Welche Potenziale hätte das für die Vermittlung von Wissenschaft in die Öffentlichkeit? Welche Synergien könnten hier entstehen?
Ja, wir wollen junge Menschen in die Innenstadt locken. Wo waren die bei der letzten Innenstadt-Runde im Rathaus?
Ja, wir wollen bezahlbaren Wohnraum in der Innenstadt. Wo ist der Investor*innen-Gipfel, um gemeinsam zu beraten, wie das gelingen kann und welchen Rahmen die Stadt hierfür setzen muss? Welche Förderprogramme wollen wir auflegen?
Ja, die Geschäfte in der Innenstadt leiden unter Corona und der Digitalisierung des Einzelhandels. Ich persönlich vermute sogar, sie leiden darunter mehr als unter einer Protected-Bikelane am Wall. Wie ließe sich die Aufenthaltsqualität an einer der schönsten Lagen der Stadt erhöhen und wie können wir die ansässigen Geschäftsleute an dessen Entstehung beteiligen? Wo ist der Dialog mit der Kreativwirtschaft, deren Vertreter*innen sich mit der Gestaltung von Wandel auskennen wie kein anderer in der Stadt?
Stattdessen sollen Studien in Auftrag gegeben werden, um die Machbarkeit (!) einer Straßenbahnverlegung zu prüfen – ohne plausibel darlegen zu können, welche positiven Auswirkungen diese Verlegung hätte. Das finanzschwache Bremen denkt ernsthaft darüber nach, 50 Millionen und mehr in ein solches Projekt zu stecken, ohne belastbare Fakten vorzulegen, ob der gewünschte Effekt mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Weil es diese Fakten nicht gibt, müssen bunte Illustrationen als Rechtfertigung für eine Investitionen in einer solchen Größenordnung herhalten. So vergeht die Zeit, während die Innenstadt immer weiter absteigt.
Und damit kommen wir zum Elefanten in der Innenstadt: Die Politik muss nicht nur den Kreis der Akteur*innen mit Interessen vergrößern. Sie muss auch die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen, damit diese Akteur*innen produktiv werden können. Und das kostet Geld. Wahrscheinlich sogar viel Geld. Vielleicht sogar zu viel Geld. Eine ernsthafte Debatte würde genau diese Frage aufrufen und mit dem neuen Innenstadt-Intendanten Carl Zillich ein entsprechendes Budget entwickeln, anstatt das Geld bereits im Vorfeld in eine fragwürdige Maßnahme zu stecken, die möglicherweise verpufft – und das auch erst in einigen Jahren. Denn die Planung, Ausschreibung und der Bau einer solchen Maßnahme kostet viel Zeit – und Zeit ist das, was die Innenstadt nicht hat.
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