Emanuel Herold: Orbáns Autokratie lebt von deutschen Investitionen

Krisenzeiten gelten als Zeiten der Exekutive. Im Zuge der Corona-Krise gestehen manche nationalen Parlamente ihren Regierungen befristete Sonderbefugnisse zu. In einigen Ländern gilt aktuell der Ausnahmezustand. In Ungarn findet man beides, mit entscheidenden Unterschieden: Das Land befindet sich seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015 offiziell im Ausnahmezustand. Und die neuen Sonderbefugnisse sind unbefristet. Victor Orbáns Zerstörung demokratischer Verhältnisse kann als vollendet gelten.

Der Konflikt hat eine weiterreichende finanzielle Dimension: Die EU muss in diesem Jahr ihre Haushaltsplanung für die kommenden Jahre zum Abschluss bringen. Stärker denn je diskutiert man nun die Frage, ob Ländern wie Ungarn oder auch Polen wegen der Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien die Fördergelder aus europäischen Töpfen gekürzt oder gar gestrichen werden sollen. Nachdem sich das offizielle Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 7 des Lissaboner Vertrags als wirkungslos erwiesen hat, müsse die EU endlich Ernst machen und dort ansetzen, wo es weh tut, nämlich beim Geld.

Dabei werden gern zwei Dinge vergessen: Erstens braucht der neue EU-Haushalt die Zustimmung aller Regierungen im Europäischen Rat – und die ungarische Regierung wird kaum für Einschnitte im eigenen Portmonee stimmen. Zweitens muss man im Falle Ungarns endlich klar und deutlich sagen: Solange die Investitionen deutscher Konzerne in dem Umfang weiterfließen, wie bisher, könnte Orbán selbst die Kürzung von Fördergeldern verschmerzen. Die Auseinandersetzungen um die europäischen Fördergelder gehen an den derzeitigen politisch-ökonomischen Realitäten des Binnenmarkts wenigstens teilweise vorbei.

Zehntausende arbeiten in den ungarischen Betrieben von VW, BMW und Mercedes, von Bosch, Continental und ThyssenKrupp. Der ungarische Staat lockt, vermittelt über die Hungarian Investment Promotion Agency (HIPA), viele Investitionsgelder an. Niedrige Steuersätze und großzügige Anschubfinanzierungen sind in der Tat ökonomisch gewichtige Argumente. Die politische Kehrseite: Deutsche Unternehmen finanzieren mit ihrer Standortwahl indirekt den autokratischen Umbau eines EU-Mitgliedsstaats.

Darüber reden auch wir Grüne nach wie vor zu wenig. Eine aktuelle und grün unterstützte Petition fordert von der EU-Kommission zurecht eine klare politische Reaktion. Eine Mahnung an die deutsche und europäische Industrie, ihre Standortauswahl innerhalb des Binnenmarkts auch politisch zu reflektieren, enthält sie nicht.

Dabei reicht die politische Tragweite der Problematik über Ungarn hinaus: Mit Blick auf die europäischer Ebene sieht Orbán seinen politischen Kurs als Vorbild für andere europäische Staaten. Und mit Blick auf die lokale Ebene fehlt übrigens auch hier vor Ort nicht der konkrete Bezug zum Thema: Das Huchtinger Bosch-Werk verlagert seine Produktion Ende 2020 nach… richtig: Ungarn.

Lebt die ungarische Bevölkerung nun einen Wirklichkeit gewordenen Wohlstandstraum? Nein. Für die ungarische Bevölkerung bedeuten ausländische Investitionen zwar Arbeitsplätze, aber sie gehen einher mit dem Abbau von arbeitsrechtlichen Standards. Orbáns rücksichtsloser Kurs manifestierte sich Ende 2018 in einer Gesetzesnovelle, der zufolge Arbeitnehmer – bspw. von deutschen Unternehmen – zu bis zu 400 Überstunden jährlich verpflichtet werden können. Die Bezahlung dieser Überstunden dürfen die Unternehmen zudem über Jahre hinweg strecken. Der Protest gegen diese Regelungen war massiv, aber erfolglos. Die Novelle wird von den Resten kritischer Öffentlichkeit in Ungarn „Sklaverei-Gesetz“ genannt oder auch: „Lex BMW“.

Das ist offenkundig kein Zufall und sollte uns alarmieren. Jürgen Trittin hat neulich in einem Interview darauf hingewiesen, dass Orbán Schwierigkeiten bekäme, wenn die deutschen Automobilhersteller nicht mehr so mitspielten wie bisher. Man sollte noch deutlicher werden: Wer innerhalb der EU auch jetzt noch große Investitionen tätigt, ohne deren politische Konsequenzen einzupreisen, trägt aktiv zu ihrer Erosion bei. Es darf vor dem Hintergrund der akuten politischen Krise des europäischen Projekts in dieser Frage keine Ausreden mehr geben.

 

Emanuel Herold