Meinung von Hermann Kuhn zur Europawahl

Die Ausgangslage

Die objektive Ausgangslage mit den Krisen und der daraus folgenden Verunsicherung großer Teile der Bevölkerung brauche ich nicht zu schildern; in jedem Fall hat sie die Frage der Sicherheit in verschiedener Hinsicht weit oben auf die politische Agenda der Menschen gesetzt. Darauf hatten die Grünen in einigen Bereichen sehr gut und erfolgreich reagiert (Energieversorgung, Unterstützung der Ukraine), in anderen eher nicht (Kriminalität, Kontrolle der Einwanderung).

Die Fehler beim „Heizungsgesetz“, bei den Entscheidungen in der Landwirtschaftspolitik (Diesel-Proteste), das vorläufige Debakel bei der Kindergrundsicherung sind hinlänglich bekannt und haben die Stimmung im Land maßgeblich bestimmt, mit negativen Folgen für uns. Sie haben uns angreifbar gemacht, weit über ihre reale Bedeutung hinaus; aber es macht wenig Sinn, darüber zu klagen. Die Fehler haben ihre Ursache auch in der Missachtung der Tatsache, dass Gesellschaften sich nur langsam verändern – und gegenwärtig kommt eine Veränderungsermattung dazu; andere haben es verstanden, daraus Veränderungsunwillen zu mobilisieren und aggressiv gegen die Grünen zu wenden.

Dazu und in Zusammenhang damit kamen handwerkliche Mängel vor allem auf der Ebene des Bundes, die dazu beigetragen haben, dass das Vertrauen in unsere Problemlösungskompetenz – und das heißt auch unsere Regierungskompetenz – massiv gesunken war und bis heute ist. Das gilt auch für das zuvor hohe Ansehen unserer Spitzenleute.

Die Wahlkampagne

Der Wahlkampf hat mit der Listenaufstellung begonnen. Erneut wurden auf die Liste zu einem großen Teil politische Aktivistinnen und Aktivisten gewählt, mit der eher unbekannten Terry Reintke an der Spitze. Inhaltlich standen im Wahlprogramm die institutionellen Fragen im Vordergrund, vor allem die aus der Zeit gefallene Forderung einer weiteren Föderalisierung der EU jetzt; leider nicht die Frage, wie von Politikbereich zu Politikbereich der Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt werden können. Aber am Ende hat die Politik des EP und der EU ohnehin nur eine marginale Rolle in der grünen Wahlkampagne gespielt.

Der Wahlkampf hatte kein thematisches Zentrum, außer vielleicht dem plakativen „Kampf gegen Rechts“ – der aber kein Grund war, gerade die Grünen zu wählen, weil damit keine konkreten grünen Vorschläge verbunden waren, außer der voreiligen, mehr oder weniger deutlichen Botschaft, dass wir mit der Prüfung eines Verbotsverfahrens gegen die AfD eigentlich schon durch sind. Dazu unten mehr.

Der Wahlkampf war in der zentralen Frage der Migrationspolitik von Kakophonie – sprich schlechter Vielstimmigkeit – geprägt. Die Bundesregierung hat nach dem BDK-Beschluss für die GEAS der EU gearbeitet und gestimmt, die Grünen im EP dagegen (wie auch die Bremer LMV). Nach dem Mord in Mannheim haben Kretschmann und Habeck von der Abschiebung solcher Straftäter gesprochen, die Bundestagsfraktion dagegen; zur großen Gefahr des organisierten Islamismus war keine klare Haltung der Grünen erkennbar. Wie können die Menschen dann wissen, was sie mit ihrer Stimme bei den Grünen wählen?

Unsere Plakate haben unsere gegenwärtige Ausstrahlung noch einmal verstärkt: Dass wir nicht mehr in der Lage sind, etwas Neues zu sagen, dass wir einen erschöpften Eindruck machen. Die Plakate hätten weitgehend auch für die Landtags- und Kommunalwahlen hängen bleiben können. Nun sind wir keine junge Partei mehr, in der Bundesregierung und in vielen Länderregierungen, also „neu gegen alt“ können wir schlecht auftreten. Parteien wie VOLT haben es leichter, aber darüber hinaus sind sie mit Erfolg frisch und frech aufgetreten, haben tatsächlich auch von Europa geredet! Beides hätten wir auch mehr tun können.

Das Ergebnis

Wir haben kräftig verloren, und das bei einer Wahl, die längere Zeit zuverlässig bessere Ergebnisse als die meisten Landes- und Bundestagswahlen gebracht hat. Wir haben überall verloren, aber in der Fläche der großen Länder noch einmal schmerzlicher: Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen als Beispiele. Hier haben sich die Konflikte und Mängel unserer Regierungsarbeit am deutlichsten ausgewirkt: Die Bauernproteste gegen Berlin (und Brüssel), das „Heizungsgesetz“, die Mängel der Verkehrsinfrastruktur, der so wahrgenommene „Kampf gegen das Auto“ (gegen das Auto, zu dem es trotz unserer phantastischen Versprechen „Jede Stunde in jedem Dorf ein Bus“ in Wahrheit für sehr viele keine Alternative gibt).

Wir haben laut Wählerwanderung-Analysen vor allem an die CDU/CSU verloren, und dann an viele unterschiedliche kleinere Parteien, und an die Nichtwähler. An die „Linke“ haben wir nicht verloren, die ja mit Linken und SPD selbst erheblich geschrumpft sind. Die kleineren Parteien sind keineswegs „linker“ als wir, wie jetzt behauptet wird: weder die Tierschutzpartei noch die Familienschützer noch die ÖDP noch die Demokratie-Verächter der „Partei“; und auch VOLT nicht (z.B. offen für Atomstrom), sie erschienen nur „unverbraucht“. Vor allem hat die Union unseren Einbruch in die bürgerliche Mitte wieder rückgängig machen können. Und die große Kluft zwischen unseren Versprechen und den realen Ergebnissen hat wohl zu viele in die enttäuschte Nicht-Wählerschaft getrieben – wobei eben das Problem auf beiden Seiten dieser Kluft liegt – bei den Versprechen und den Ergebnissen!

Wenn wir im Wahlkampf „nicht links genug“ gewesen sind, wie jetzt einige Grüne behaupten, dann muss man erklären, wieso die Linke mit Frau Rakete so desaströs gescheitert ist?

Besonders dramatisch haben wir bei den jungen Menschen verloren, die ja besonders schnell auf sich wandelnden Zeitgeist und Stimmungen reagieren. Dabei wird Verschiedenes eine Rolle gespielt haben: Enttäuschung über zu langsame Fortschritte des dringlichen Klimaschutzes, aber mindestens ebenso das Gefühl von Einschränkungen „von oben“ der gerade erst erworbenen Freiheit und Selbständigkeit (Auto! Reisen!), Zukunftsunsicherheit. Die Grüne Jugend erreicht offenbar ihre Zielgruppe gegenwärtig sehr wenig mit ihrer radikalisierten Insider-Sprache.

Wenn wir uns also nicht darauf beschränken wollen, unsere Kernwählerschaft (Kern Stand jetzt!) nur zu halten, müssen wir uns die Aufgabe stellen, einen neuen Anlauf, mit langem Atem, zur Eroberung in der Mitte zu machen. Dazu braucht es eine pragmatische Politik, die Lösungen für viele anbietet. Was heißt das?

Die Konsequenzen

Was eine pragmatische Politik heißen könnte, will ich an einigen Beispielen verdeutlichen, die auch für die kommende Bundestagswahl wichtig sein werden.

Klimapolitik
Die Frage „Sollen wir jetzt mehr oder weniger Klimaschutzpolitik machen?“ ist falsch gestellt. Es geht darum, die Klimapolitik anders zu machen. Gesetzliche Regelungen nur dann einführen, wenn sie technisch umsetzbar und mit finanzieller Unterstützung (grundsätzlich) für alle machbar sind. Private Initiativen fördern (z.B. private Solaranlagen), staatlichen Ausbau auf öffentlichen Gebäuden forcieren. Voraussetzungen der Infrastruktur schaffen (z.B. ausreichendes Netz an Ladesäulen). Und offensichtlich ziemlich wichtig: Andere Lebensweisen nicht verächtlich machen (u.a. kein „Kampf gegen das Auto“).

Migration
Es gibt in Deutschland nach wie vor eine Mehrheit dafür, das geltende Asylrecht zu respektieren und auch umzusetzen (dabei sind auch sehr viele Menschen, die weiterhin von „Flüchtlingen“ sprechen und sich unseren Sprachregeln und -verboten zu Recht widersetzen; was sie tun, ist allemal wichtiger). Diese Akzeptanz gilt auch nach wie vor mehrheitlich für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen. Es gibt immer weniger Unterstützung für einen politischen Kurs, der faktisch offene Grenzen bedeutet und jede souveräne Kontrolle der Grenzen wahlweise als Menschenrechtsverletzung oder Illusion bezeichnet, das Kriterium der Aufnahmefähigkeit einer Gesellschaft als unzulässig verwirft.

Trotz vieler anderer Stimmen und auch Beschlüsse werden die Grünen insgesamt mit dieser Politik in Verbindung gebracht, die in keiner Weise mehrheitsfähig ist, und auch unserem Recht nicht entspricht. Beispiele für diese politische Wahrnehmung der Grünen war die Diskussion um die Bezahlkarte und die Frage der Abschiebung von Straftätern wie dem Polizistenmörder von Mannheim, als ein paar Tage von der Wahl die klare Antwort von Habeck von der Fraktion und anderen weggeredet wurde, indem auf tausend Umsetzungsprobleme hingewiesen wurde. Statt zu sagen: Habeck hat recht, und wir tun alles, um die Probleme zu lösen.

Mit Sorge muss uns auch erfüllen, dass auch bei uns zunehmend der Begriff der notwendigen „Integration“ der Zugewanderten in Frage gestellt wird, weil wir damit die Zugewanderten und ihre Traditionen mit „Gewalt“ unseren Traditionen unterwerfen. Das stellt aber die Grundlagen und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gefährlich zur Disposition. Und führt dazu, dass wir die realen Konflikte, die mit der gegenwärtigen Zuwanderung erkennbar verbunden sind, gern übersehen möchten. Mit geschlossenen Augen kann man auch keine Lösungen erarbeiten.

Sicherheit
Ob die Kriminalität heute in der Statistik größer ist als gestern, ist zwar eine beliebte Streitfrage zwischen „links“ und „rechts“. Das ist aber nicht entscheidend, denn ganz sicher hat sie sich gewandelt und: sie ist heute sichtbarer. Und ganz sicher ist das Gefühl der Unsicherheit gewachsen. Viele Grüne machen öffentlich immer noch den Eindruck, als würden sie diese Entwicklung kleinreden und schon das Reden darüber als „rechte Agenda“ zurückweisen. Mit solchen Reaktionen erscheinen wir als inkompetent und dazu noch als arrogant.

Zur Korrektur brauchen wir auch eine Verständigung über die Ursachen der sich ändernden Kriminalitätslage.

Demokratie
Wenn es überhaupt einen inhaltlichen Schwerpunkt der Wahlkampagne gab, war es der „Kampf gegen Rechts“. Wir können darüber streiten, ob dieser Kampf wenigstens teilweise erfolgreich war, ob die AfD sonst nicht noch stärker geworden wäre. Aber grundsätzliche Fehler in dieser Kampagne sind auf jeden Fall sichtbar. Ihr Adressat waren vor allem wir selbst (und vielleicht noch die StammwählerInnen von Links und ein Teil der SPD), und nicht diejenigen Menschen, die wir versuchen müssen zu erreichen: die sich vor der Wahl überlegen, die AfD zu wählen oder nicht.

Die Kampagne hat viel zu oft nicht sauber zwischen „rechts“ und „rechtsextrem“ unterschieden, hat deshalb auch über linksextrem und islamistisch geschwiegen; hat durch diese Unschärfe zu oft die CDU in dieses „Rechts“ mit einbezogen, statt sie als demokratische Partei in den Kampf für die Demokratie mit einzubeziehen. Am Ende wurde die gesamte AfD (und andere rechtspopulistische Parteien in Europa) als „Nazis“ und „Faschisten“ bezeichnet, jede Differenzierung unterlassen, mit dem faktischen Ergebnis einer Relativierung der deutschen Geschichte. Wir müssen uns schon die Frage stellen, inwieweit wir selbst zur von uns so beklagten Polarisierung beitragen. Nach dieser Wahl ist aber zu fürchten, dass eher die folgenlose Wortradikalität noch zunimmt.

Über das politische Programm der AfD für die EU (Austritt, D-Mark usw.) haben wir im Wahlkampf kaum einmal geredet, es gab dazu keine guten Argumentationshilfen, wir haben in den bekannten Hochburgen (ich spreche jetzt nur über Westdeutschland) nicht darüber die Auseinandersetzung gesucht. Wir sind im Wahlkampf nicht dahin gegangen, „wo es weh tut“.

Soziales
Als Konsequenz des Wahlausgangs ist verschiedentlich „mehr Sozialpolitik“ gefordert worden. Auch da geht es nicht um „mehr“ oder „weniger“, sondern um anders. Dass beim Heizungsgesetz sozial gestaffelte Unterstützung von Anfang an hätte geregelt sein müssen, dass das „Klimageld“ überfällig ist, ist schon Allgemeinplatz. Aber es geht auch um andere Leitlinien grüner Sozialpolitik. Dass an erster Stelle der Ausbau der Infrastruktur stehen muss; dass sich Hilfe auf die konzentrieren muss, die auf Hilfe angewiesen sind; dass sich deshalb eine weitere Ausdehnung von „Alles umsonst, der Staat zahlt“ verbietet, die vor allem im Interesse der Mittelschicht ist (Beispiel gebührenfreier Kindergarten statt mehr Kitaplätze); dass sich die Sozialpolitik mit der sich weiter verändernden Demographie verändern muss, die jetzige Regelung etwa der Rente mit 63 falsch ist.

Die gesellschaftliche Akzeptanz für die historisch hohen Sozialabgaben ist auch davon abhängig, dass das Gerechtigkeitsempfinden gerade der nicht privilegierten Menschen respektiert wird, dass sich Arbeit lohnen muss und dass Hilfe zu Gegenleistung verpflichtet. Die grüne Vorstellung von vollkommen sanktionslosen Ansprüchen widerspricht dem.

Bundestagwahl 2025

Bezogen auf die Vorbereitung der Bundestagswahl bedeutet das: Frühe Einigung auf eine Person an der Spitze des Wahlkampfs. Neudefinition der Aufgabe der politischen Geschäftsführung und eine neue Person dafür. Und wir sollten es schaffen, diesmal wirklich ein schlankes Wahlmanifest zu schreiben statt dicker Antragsbücher.

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