Marlin Meier: Keine Wahlanalyse

Wieder eine Wahl verloren. Und wieder werden in den Talkshows, Leserbriefen und Bürofluren der Republik die immer gleichen fünf Übungen vorgeturnt:

Die haben zwar mit wissenschaftlich-redlicher Analyse & Kritik wirklich wenig zu tun, machen aber trotzdem einen Großteil dieser sog. “Wahlanalysen” aus. Hier deshalb mal als kleine Blaupause:

[Bitte nicht zuhause nachmachen!]

1) Mit diesen Verlusten zunehmend schwieriger: sich das Ergebnis mit aller möglichen Zahlenakrobatik noch irgendwie schön-rechnen: Im Vergleich zum Bund haben wir gar nicht SO viel verloren, sind wir zwar nicht gegenüber der letzten, aber dann doch der vorletzten Wahl vergleichsweise stabil, wir konnten trotz herber Verluste in einigen Vierteln stärkste Kraft bleiben und überhaupt war die Stimmung im Wahlkampf doch auch schon mal noch schlimmer…wenn auch zum Glück mit weniger tätlichen Angriffen als jetzt…

An der Technik dieses sehr interessierten Vergleichs nach unten (der schließlich immer geht) merkt man schon, dass der damit zu rechtfertigende Standpunkt “vielleicht ist’s gar nicht SO schlimm” bereits vorher feststand. Sonst könnte man unser Ergebnis genauso an den erfolgreichen messen.

2) Mal mehr mal weniger vornehme Wählerbeschimpfung: Unsere Politik ist eben zu kompliziert zu erklären. Man habe mit dem Populismus (merkwürdiges Schimpfwort) zu kämpfen und mit diesem kurzweiligen Internet eh. Angeblich sei es auch irgendwie naheliegender, aus Armut nach Rechts zu rücken, umso anfälliger wären sie überhaupt für uns böswillige Kampagnen und vom schönen Amtsbonus profitieren irgendwie auch immer nur andere: Das einfache Volk ist also zu dumm für gute Politik? Was folgt daraus? Nach langem Herum-Parlamentieren meist: genauso weiter machen –  aber “mehr”: Mehr erklären & mehr Erfolge feiern – aber auch mit mehr Ehrlichkeit, mehr Basis und mehr Führung, mehr klare Kante und mehr Pragmatismus wagen, mehr Durchregieren und viel mehr Zuhören… na und wenn DAS nicht klappt: nochmal!
(Schuld sind schließlich andere.)

3) Wenn doch Fehler eingestanden werden (lieber erstmal die der anderen) dann zunächst solche im politischen Handwerk: Da lachte wer blöd im Berliner Abgeordnetenhaus, Annalena verspricht sich, Robert vergreift sich in Ton & Zeitpunkt bei seinem “Versuch an der Bevölkerung”, da wurden die falschen Bilder produziert, die Plakate sind zu doll grün oder zu wenig, die Kampagne nicht frisch genug, da hat man unnötige Angriffsflächen geboten, war sich zu uneins in der Migrationsdebatte:

Dabei hängt doch erstens die Frage, ob sich irgendein Missgeschick, irgendein Lacher oder Fehltritt (die es ja nicht bloß bei uns gibt) so verfängt, dass er viral die Runde macht vor allem daran, ob er ein (Vor)Urteil TRIFFT, dass es schon vorher zu unserer Politik gibt. DAS wird man nicht los in dem alle makellose Politroboter spielen, sondern indem wir praktisch dieses Urteil angreifen. Zum Beispiel durch gute Politik.

Zweitens macht die ständige Forderung nach “Geschlossenheit” vor allem eins: sie entpolitisiert zentrale Richtungs- und Gewissensfragen. Sie führt die Vielfältigkeit der Überzeugen und Hintergründe, aus denen Menschen bei uns Politik machen als eine Schwäche an und verabschiedet sich an der Stelle davon, sachliche Argumente für die eigene Position zu finden. Nur weil wir als Landesparteitag eine klare Mehrheit gegen die GEAS-Reform gefunden haben und danach unsere Politik ausrichten verbietet der Beschluss natürlich niemandem, für eine andere Position zu werben. Wer das für selbstverständlich hält, es aber umgekehrt plötzlich für ein unhaltbaren Störfall erklärt, wenn der Landesverband sich nicht geschlossen hinter einen Pro-GEAS Beschluss des Bundesparteitags stellt, darf sich fragen warum.

Aber diese Entpolitisierung passt zu einem merkwürdigen Marketing-Blick auf Politik, der in den Wahlnachlesen seine traurige Hochkonjunktur feiert: Wenn der Forderung nach progressiver Politik damit begegnet wird, dass wir diese Wahl ja nicht ans linke Lager verloren hätten* (sondern an Konservative und Kleinstparteien) – dann müssen wir dem doch sagen, dass wir unsere Positionen aus inhaltlicher Überzeugung vertreten und nicht bloß um Stimmen zu fangen!

Auch wer zur “Eroberung der Mitte” aufruft, tut das doch hoffentlich nicht bloß für den eigenen Machterhalt, sondern mit politischen Argumenten, warum das besser für die große Mehrheit der Menschen wär- auch wenn die grad vorliegenden Papiere leider weitgehend ohne solche Bemühungen auskommen.

(* Und btw: Hätten wir an die Linke und SPD verloren, würde es wahrscheinlich heißen: Die Leute wählen halt lieber das Original der Arbeiterpartei oder ihr in Opposition noch unbefleckteres Ideal. Und damit steht *taddah* auch das gegenteilige Ergebnis wieder für: “Unser Platz ist in der [sog.] Mitte.”)

4) Aber vor allem bleibt grad das große Interpretations-Spiel: Führe das Ergebnis (so gut oder schlecht es grad ist) direkt als das schlagendste Argument für genau die Position ins Feld, die [Überraschung!] Du selbst ja eh schon immer vertreten hast! Praktisch, dass man so einem Wahl-Kreuz ja eben nicht ansieht, wofür es steht. (Erst Recht wenn es garnicht erst abgegeben wird) – Sonst müsse man sich womöglich noch neue Gedanken machen.

Ganz vorne mit dabei: eine Riege alter Mandats-Realos, die uns jetzt erklärt, dass eigentlich die Grüne Jugend mit ihrem Linkskurs Schuld an dem schlechten Abschneiden der Grünen bei Jugendlichen sei, dass wir jetzt -Doppelspitze und Frauenstatut mal beiseite – endlich die Führung des starken Mannes Habeck brauchen und mehr auf Sicherheit, Migration, Wirtschaft, “Pragmatismus” und Positionen der bürgerliche Mitte setzen sollen.
(Vert-Realos: https://vert-realos.de/konsequenzen-fuer-die-gruenen-nach-der-eu-wahl)
Wahlweise noch ergänzt um “Kein Kampf gegen das Auto”, weniger Sprachpolizei und Forderungen nach Sozialstaatsabbau.

Während man sich links mindestens genauso sicher ist, dass die selben Ergebnisse für’s glatte Gegenteil stehen! 😀

5) Personelle Konsequenzen: So richtig zugespitzt wird beides dann in der Verbindung mit einer ordentlichen Prise Machtpolitik, die erst Recht unter der Überschrift der “Geschlossenheit” fordert, dass jetzt Köpfe rollen [Die der anderen, versteht sich.] und womöglich noch offene Führungsfragen schnell geklärt werden. [Im Sinne des eigenen Personals nämlich.]

So wundert es auch nicht, dass etwa der Ruf “die politische Geschäftsführung verantwortet die Kampagne!!” (der jetzt durch fast jedes Realo-Papier hallt) natürlich nie derart laut wurde, als es den selben Gruppen noch darum ging, die Kampagne sauber an der Zielgruppenanalyse vorbei Richtung “bürgerliche Mitte” zu drücken.

Aber hey- nichts ist schließlich so befriedigend wie eine geklärte Schuldfrage!
Und wenn sie dem Rest der Partei damit auch gleich so schön billig erlaubt, ein ganz neues Kapitel aufzuschlagen, in dem man sonst gar nichts groß anders zu machen braucht: umso besser.

Als diese Stimmungsmache entwickelt die ansonsten ja theoretisch eher einfältige geistige Selbst-Befriedigung, es im Nachhinein (mithilfe der Tricks 1-5) selbst immer besser gewusst zu haben, ihre politische Schlagkraft:

SO argumentativ und politisch unsauber soll jetzt über die politische Linie und personelle Spitze dieser Bundes-Partei bestimmt werden? Bitte nicht. :/

WAS DANN?

Statt jetzt aber die selben Fehler bloß auf links zu drehen und die eigenen Überzeugungen und (Vor)Urteile als einzig logische Konsequenz aus dem Wahlergebnis zu präsentieren…

[Wir müssen wieder Politik für die unteren 2/3 der Einkommen machen; brauchen mehr Investitionen in (soziale) Infrastruktur und Bildung, müssen die große Linie von sozial-ökologischer Transformation alltagspraktisch runterbrechen, sind als linke Bündnispartei stark, müssen (auch online) die eigene Bubble verlassen…]

…hab ich -Stand jetzt- eigentlich nur drei kurze Punkte, die ich stark machen will:

A) Ins Gespräch gehen:

Wenn wir die richtigen Konsequenzen aus dieser Wahlschlappe ziehen wollen, dann sollten wir im ersten Schritt erstmal nachfragen. Nicht nur beim eigenen Polit- und Freundes- Zirkel, sondern da, wo wir am meisten verloren haben: Bei jungen Menschen, Arbeiter*innen, Nichtwähler*innen und den Wechselwählern zur CDU & Kleinstparteien. Wahlentscheidungen sind durchdachter und vielschichtiger, als irgendeine Schlagwort-Umfrage abbildet: Warum haben wir hier Vertrauen verloren und was wird erwartet?

Zumindest die ersten Gespräche in meinem eigenen Gewerkschafts-Umfeld lassen mir in den paar Wochen noch kein so klares Bild zu, dass ich hier zu einer “Analyse” aufblasen wollen würde.

B) Lasst uns – ehrlich und politisch – streiten.

Nicht erst die in weiten Teilen gegenläufigen Gedanken und Schlüsse aus der Wahlniederlage zeigen, dass wir von verschiedenen Standpunkten aus Politik machen, für die wir sicher gute Gründe haben. Aber dann lass uns auch über diese Begründungen inhaltlich diskutieren (und nicht darüber, welche Sozialpolitik angeblich aus -8,6% folgen würde) und ernst nehmen, dass wir bei noch so verschiedenen Herangehensweisen in aller Regel die Zielsetzung teilen.
Die Erinnerung daran beugt dann in den Debatten hoffentlich auch der extremen Polarisierung und zunehmenden Zerrbildern des politischen Gegenübers in der Partei vor, die wir in der Migrationsdebatte beobachten mussten. Wir sind hier immer noch unter uns.

C) “Gib deine Stimme nicht AB- setz sie ein!”

wäre vielleicht eine ehrlichere Losung zu den nächsten Wahlen. Die Themen vor denen wir stehen sind zu groß um sich darauf zu verlassen, dass man bequem ein Kreuz setzen könnte und dann würde es schon irgendwie von “der Politik” geregelt werden. Wir schaffen das nicht alleine!

Der Kampf gegen Rechtsextremismus und für Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit braucht nicht bloß alle paar Jahre x Prozent mehr für die Grünen im Parlament, sondern mehr PS auf der Straße und Druck in der ganzen Breite: in sozialen Bewegungen, in Vereinen, in Betrieben, in der Partei…

Wenn das klar wird, ist auch der Bruch zwischen Erwartungen und lieferbaren Ergebnissen in schwierigen Koalitionen nicht ganz so groß: Es kommt auf uns alle an!

Also lasst uns auch im Wahlkampf und davor genau dafür streiten. Die GJ hat das mit dem Kampagnen-Ziel, vor allem mehr GJ-Aktive und auch abseits ihres klassischen Klientels junge Menschen für Politik zu gewinnen schon vorgelebt. Und btw: wer sich wünscht, dass sie sich darüber hinaus noch aktiver in den Wahlkampf um Jugendliche einmischt, sollte sie vielleicht lieber selbst fragen, was die Partei dafür attraktiver machen kann. Dass dazu ausgerechnet Sprach-Tipps und Forderungen nach konsequenterer GEAS-Politik und Sozialstaatsabbau gehören, würde mich sehr überraschen.

->Anmerkungen, Kritik, eigene Wahlanalysen oder Gesprächseindrücke gern an:
marlin.meier(at)gruene-bremen.de

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