Eins sei vorweg gesagt, hier schreibt kein Ökonom und kein Jurist. Eine Meinung habe ich natürlich trotzdem.
Vorgestern hat das Bundesverfassungsgericht ein viel beachtetes Urteil gefällt. Es ordnete die seit 2015 getätigten Staatsanleihekäufe der EZB (Public Sector Purchase Programme – PSPP) als zumindest teilweise verfassungswidrig ein. Zukünftig müsse die EZB die Verhältnismäßigkeit ihrer Handlungen besser begründen und Bundesregierung und Bundestag prüfen, ob dieses Handeln verhältnismäßig ist. Erst mit der Zustimmung dieser beiden darf sich die Bundesbank (weiterhin) am Folgeprogramm beteiligen. Ein Voraburteil des EuGH von 2018, welches die Praxis der Notenbank guthieß, wies das BVerfG mit der Begründung zurück, dass dies ultra-vires sei. Das heißt so viel wie, dass ein europäisches Organ seine durch das EU-Recht gedeckten Kompetenzen überschreitet. Das BVerfG schreibt dazu: „Die Auffassung des Gerichtshofs [EuGH], der Beschluss des EZB-Rates über das PSPP und seine Änderungen seien noch kompetenzgemäß, verkennt in offensichtlicher Weise Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit […] und ist wegen der vollständigen Ausklammerung der tatsächlichen Auswirkungen des Programms auf die Wirtschaftspolitik methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbar.“ (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-032.html)
Das BVerfG gibt sich dennoch Mühe zu begründen, dass es die Kompetenz und Hoheit des EuGH nicht grundsätzlich anzweifelt, sondern in diesem Fall ein Kompetenzverstoß der EZB vorliege und erst dadurch, ebenfalls das Urteil des EuGH ultra-vires sei. Soweit die Lage und nun haben wir aus meiner Sicht ein Problem. Ein Problem auf verschiedenen Ebenen – ökonomisch, juristisch und politisch.
Ökonomisch, da das Anleihekaufprogramm der EZB in Zweifel gezogen wird. Da der Leitzins schon seit Jahren bei 0% liegt, können wirtschaftliche Impulse durch die EZB nur noch durch Anleihekäufe gesetzt werden. Durch das Urteil droht zumindest in Deutschland die Legitimation des letztverbliebenen geldpolitischen Mittels zur Abfederung einer drohenden großen Rezession durch die Coronakrise abhanden zu kommen. Gleichwohl hat das BVerfG deutlich gemacht, dass das Urteil sich nicht auf die aktuellen Anleihekaufprogramme, die im Zuge der Corona-Pandemie aufgesetzt wurden, bezieht.
Juristisch, da eine niedrigere Instanz die Rechtsprechung der höheren Instanz öffentlich in einem Urteilsspruch kritisiert und zumindest in weiten Teilen der internationalen Presse das Urteil als Kampfansage an den EuGH verstanden wird.
Politisch, da sich die europaskeptischen Regierungen, die schon jetzt missliebige Urteile des EuGH nicht anerkennen wollen, sich in ihrem Handeln bestärkt sehen. Zusätzlich wird die Unabhängigkeit der EZB in Frage gestellt, wenn deren Handlungen nun immer erst durch Berlin abgesegnet werden müssen. Ganz zu schweigen davon, dass nun auch die anderen 18 Mitglieder der Währungsunion eigene Verhältnismäßigkeitsprüfungen einfordern könnten. Wie eine Verhältnismäßigkeit einheitlich definiert werden soll ist dabei eine große Herausforderung, die das verlässliche Arbeiten der EZB gefährden könnte.
Ich kann mir nicht anmaßen das Urteil des BVerfG zu bewerten und werde es daher an dieser Stelle auch nicht tun.
Letztlich sehe ich ohnehin politische Inaktivität als Auslöser für dieses Urteil. Die wirtschaftliche Erholung der letzten Jahre hat ein window-of-opportunity geschaffen, um sich endlich an die dringend notwendige Reform der Wirtschafts- und Währungsunion der EU zu machen. Was ist passiert? Es gab höchstens ein “Reförmchen“. Den großen Wurf haben die Staats- und Regierungschef der Euroländer nicht gewagt und sich stattdessen auf das Handeln der EZB verlassen, um die Krise zu bewältigen.
Dies kann sich jetzt rächen. Schon die Finanzkrise von 2008, die die EU für viele Jahre im Griff hielt, offenbarte, dass der Euro eben nicht für alle zu mehr Wohlstand führt. Dass der Verlust nationaler Währungspolitik es den Mitgliedstaaten unmöglich gemacht hat Wettbewerbs- und Produktivitätsnachteile durch eine eigene Währungspolitik auszugleichen. Deutschland als einer der größten Profiteure der gemeinsamen Währung trat stets als einer der größten Bremser weiterer wirtschafts- und währungspolitischer Integration auf. Dabei hätten die großen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, die sich nach der Finanzkrise zwischen Nord- und Südeuropa auftaten dringend einer flankierenden Politik bedurft, um zu zeigen, dass die EU auch ein soziales Projekt ist.
Was es vor der aktuellen Krise gebraucht hätte und jetzt umso dringender ist, wäre ein gemeinsamer Haushalt für die Euroländer der grundsätzlich auch den Nicht-Euroländern der EU offen steht. Dieser sollte sich vor allem auf die Finanzierung europäischer Gemeingüter, wie dem Ausbau erneuerbarer Energien, Forschung und europäischer Infrastruktur konzentrieren. Solch ein Haushalt müsste auch durch steuerlich finanzierte Eigenmittel unterlegt sein. Also Mittel, die von der EU für die EU eingenommen werden. Dies könnte z.B. eine europäische Steuer für Digitalkonzerne sein.
Ich hoffe, dass die Aushandlungsprozesse, die derzeit rund um einen Europäischen Wiederaufbaufonds stattfinden, um aus der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise herauszukommen, auch zu einer Beseitigung bestehender Defizite im Wirtschafts- und Währungsbereich führen werden. Was es braucht, ist ein umfassender Green-Deal, der dazu beiträgt, dass allen Mitgliedstaaten umfassende Hilfsmaßnahmen ermöglicht werden und nicht nur die Länder gut aus der Krise kommen, die mit umfassenden nationalen Programmen gegensteuern können. Den Kräften, die sich für solch einen integrativen und Ungleichheiten abbauenden Wiederaufbaufonds einsetzen, hat das Urteil des BVerfG in jedem Fall keinen Rückenwind gegeben.
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