Hermann Kuhn zum Grünen Wahlergebnis

Es geht hier nicht um individuelle Verantwortung oder Schuldzuweisungen, auch nicht um einzelne „Pannen“ (Plakate usw.) im Wahlkampf. Es geht um den Versuch zu verstehen, was wesentliche Gründe sein könnten für die Tatsache, dass wir – die Grünen insgesamt – den Aufschwung des Frühsommers nicht haben halten oder sogar noch haben ausbauen können. Mit Aufschwung meine ich nicht den einen Ausreißer in Umfragen bis 27, 28 %, sondern das Niveau, das wir mit 20+ in den Umfragen ziemlich konstant erreicht hatten. Dass wir jetzt hinzugewonnen haben gegenüber 2017, ist wahr; und konkret in Bremen ein wirklich gutes Ergebnis. Aber unsere Ansprüche und unsere Möglichkeiten waren andere, und deswegen überwiegt jetzt zu Recht die Enttäuschung über den „Absturz“ oder wenigstens „Sinkflug“. Wir haben eben geglaubt, viel mehr wollen zu können.

Als Grund für diese Entwicklung ausschließen möchte ich gleich eine „Rufmordkampagne“, eine „Medienkampagne“ und besondere Härte oder Unfairness gegenüber unserer Kandidatin; auch die Klage, es sei nicht um Sachfragen, sondern um (nicklige) Personalien gegangen. Ja, von all dem hat es etwas gegeben, aber nicht mehr als in jedem Wahlkampf. Und im Übrigen haben wir ja mit der frühen Entscheidung, eine/n Kanzlerkandidatin/en auszurufen, selbst die Bedeutung von Personen hervorgehoben.

Und da im Folgenden viel von Fragezeichen und kritischen Punkten gesprochen werden wird, gleich zu Beginn mein klares Urteil: Annalena und Robert haben in den letzten vier bis fünf Wochen in den Fernsehdiskussionen und in ihren öffentlichen Auftritten (das ist das, was ich beurteilen kann) sehr gute Arbeit geleistet; in ihrer Art unterschiedlich, aber gerade auf ihre besondere Art sehr überzeugend. Das gilt vor allem auch für den immer fairen Umgang untereinander. Ob die Partei insgesamt wirklich für diese von ihr so titulierte „Schicksalswahl“ mobilisiert war, kann ich nicht beurteilen; in Bremen hatte ich nicht unbedingt den Eindruck, aber da fehlt mir der Überblick.

 

Kanzlerkandidatur
Ich habe von Beginn an die Verkündung einer grünen Kanzlerkandidatur für eher falsch gehalten. Aus zwei Gründen: Ich habe nicht geglaubt, dass wir schon ernsthaft „um Platz eins“ spielen können; zwischen Mut und Übermut/Selbstüberschätzung, die dann gar nicht gut ankommen, liegt ein sehr schmaler Grat. Der zweite Grund: Mit zwei Spitzenkandidat*innen, Annalena und Robert, hätten wir uns die ganze kräftezehrende Diskussion in der Öffentlichkeit, all die Wochen bis zum Wahltag und wahrscheinlich drüber hinaus, sparen können: „Wäre Robert nicht besser gewesen?“ Diese Zweifel haben auch in der Partei eher demobilisiert. Allerdings muss man natürlich die höhere mediale Präsenz von Annalena dagegen rechnen; für mich überwiegen dennoch auch aus heutiger die negativen Aspekte der grünen Kanzlerkandidatur.

„Bereit, weil Ihr es seid!“
Dieser Punkt und der nächste hängen eng zusammen. In einer „Meinung am Freitag“ anlässlich der Wahl in Sachsen-Anhalt im Juni hatte ich geschrieben: „In diesem Text [von Hofreiter] steht ein zentraler Satz, dessen Fehlinterpretation für uns gefährlich werden kann: ,Unsere Gesellschaft ist beim Klimaschutz viel weiter als große Teile der Politik.‘“ Auch wenn der Satz so vage formuliert ist, dass er auch kaum widerlegt werden kann, die dahinterliegende Annahme halte ich für falsch, trotz der FFF-Demos und der Unternehmen, die für ein bestimmtes Publikum nur noch mit „öko“ werben. Noch mal mein Text vom Juni:

„Bei Umfragen haben wir große Mehrheiten für konsequenten Klimaschutz. Aber wenn die Regeln und Rahmensetzungen der Politik das alltägliche Leben der Menschen berühren, sieht es ganz anders aus. Da fragen die Menschen, was bedeutet das für mich, wie kriege ich das hin? Diese Fragen zu beantworten, das wird unsere zentrale Aufgabe in den nächsten Monaten sein.“ Es ist in den Debatten dieses Wahlkampfes viel um Klimaschutz gegangen, aber wir können nicht sagen, dass wir die in diesem Punkt immer gewonnen hätten. Manchmal hat Annalena sich in abenteuerliche Versprechen gerettet: „In jedem Dorf zu jeder Stunde ein Bus“. Die Anwesenheit von FFF-Aktivist*innen in den Talkrunden war auch selten hilfreich, da die erst mal erklärten, die Programme aller Parteien seien nicht 1,5-Grad-tauglich, ohne ihrerseits Vorschläge für Maßnahmen zu machen, die ihre eigenen Maßstäbe erfüllen würden. Damit gab es von uns selten eine politische Auseinandersetzung und Kritik.

In dem „Bereit, weil Ihr es seid!“ steckt aber noch ein anderer Fehler: dass die Grünen nur das widerspiegeln können, was in der Gesellschaft schon da ist. Robert hat das oft so ausgedrückt: „Es kommt nicht auf die Grünen an, sondern auf die Gesellschaft.“ Dahinter steht wohl ein grundsätzlich sympathisches Verständnis von Politik und den Aufgaben von Politiker*innen. Aber bei der Bundestagswahl stellt sich nicht „die Gesellschaft“ zur Wahl, sondern eben Parteien. Und insofern kommt es in der parlamentarischen Demokratie, und gerade bei Wahlen, eben doch mehr auf Parteien an: sie haben besondere Aufgaben und größere Verantwortung, sie müssen zu mehr „bereit“ sein. Und deshalb war der Slogan dieser grünen Wahlkampagne wenig geeignet, für die alles entscheidende Stimmabgabe für die Grünen zu mobilisieren – bei aller grundsätzlichen Sympathie für die dialogische Politikphilosophie.

 

„Schicksalswahl“
Ich kann mich an keine Wahl erinnern, die nicht als „Richtungswahl“ bezeichnet worden wäre. Das muss wohl so sein im politischen Geschäft; und die Bezeichnung als „Schicksalswahl“ für den Klimaschutz hat ja auch wirklich eine gewisse Berechtigung, obwohl ich eher kein Freund von solchen Dramatisierungen bin. Aber haben wir das selbst ernst genommen? Jedenfalls steht dieser Slogan für mich in eklatantem Widerspruch zu der Tatsache, dass sich die Partei (und damit natürlich vor allem das Hauptquartier) den Luxus geleistet hat, über 3000 Änderungsanträge zum Wahlprogramm klein kochen zu müssen, von denen die allerallermeisten keinerlei Relevanz für die politischen Botschaften des Wahlprogramms gehabt haben. Das hat Kräfte gebunden, die viel besser für die Vorbereitung und Absicherung des Wahlkampfes hätten verwendet werden müssen.

 

Krisen
Die Kette von Annalenas Fehlern ist bekannt. Ich will hier nur eine Vermutung über ihre Quellen äußern: Sie hatte wohl ihren Ursprung in dem Wunsch, für die beanspruchte Rolle geeignet zu erscheinen, und dem Gefühl, dass die Tatsachen dafür nicht ausreichen. Dieses Gefühl haben offenbar vor allem ihre politischen Berater gehabt. Weitgehend besteht wohl inzwischen Einigkeit, dass die fatalen Reaktionen auf die ersten Veröffentlichungen („Rufmord“ usw.) die Fehler erst so richtig groß gemacht haben. Das war dann noch weniger der Politikstil, den wir für uns beanspruchen.

Die Frage ist, warum Annalena diese Fehler so völlig unverhältnismäßig übel genommen worden sind in der Öffentlichkeit? Da spielt natürlich eine Rolle, dass wir lange Jahre und zu oft auf unsere besondere moralische Integrität verwiesen haben. Wichtiger aber scheint mir, dass diese Fehler in eine Zeit fielen, in der die Klimakrise real und auf allen Bildschirmen näher rückte (Brände, Dürre, Fluten); später kam noch die Afghanistan-Krise hinzu. Die Frage ist, warum diese sichtbaren Katastrophen (noch unterfüttert durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und das letzte Gutachten des IPCC) politisch den Grünen nicht weiter Auftrieb gegeben hat – im Gegenteil?

Meine These ist, dass viele Menschen gemerkt haben, dass es tatsächlich ernst wird. Und dass dies bei sehr vielen zum abstrakten Wunsch nach Veränderung führt, aber gleichzeitig auch zum Wunsch nach Schutz vor Veränderung, soweit es und weil es sie selbst betrifft. Und es führt dazu, dass viele die Führung der Politik in dieser Situation Personen anvertrauen wollen, die Erfahrung haben, ernsthaft und solide auftreten und auch noch „moderaten“ Klimaschutz versprechen, eher Kontinuität (viel Merkel) und weniger Aufbruch. Bewältigung großer Krisen trauen viele den Grünen und in diesem Fall persönlich Annalena (noch?) nicht zu.

Daher der Aufstieg von Olaf Scholz, der ja damit gerade bei den Älteren die Wahl entscheidend gewonnen hat. Und deshalb wogen die Fehler von Annalena doppelt schwer, weil sie auf das Konto „zu leicht befunden“ gebucht wurden. Sehr oft, zu oft, habe ich das Urteil über sie gehört: „Sehr kenntnisreich, sehr kompetent, sehr sympathisch – aber zu früh.“

„Lagerwahlkampf“
Eine Einschränkung in meinem Lob für das Auftreten von Annalena muss ich für die letzte Woche machen: Da ist sie für einige Tage von der richtigen und klaren Aussage abgewichen, keine Aussage zu Koalitionspräfenzen von „links oder rechts“ zu machen; offensichtlich mit dem Versuch, wenigstens unsere (erweiterte) Stammwählerschaft zusammenzuhalten. Halbherzig gesagt und dann halbherzig wieder korrigiert: Sowas zahlt sich nicht aus und widersprach ja auch ihrer zentralen Aussage, dass es in der entscheidenden Klimaschutzfrage keinerlei Unterschied zwischen CDU und SPD gibt. Nur in der strikten Betonung der Eigenständigkeit („Man kann nur Parteien wählen und keine Koalitionen, so gern die Wähler*innen das auch wollen“) kann man auch etwas dem unvermeidlichen Effekt entgegentreten, dass bei einem knappen Spitzenrennen der Dritte Federn lassen muss. Diesen Effekt haben wir in Bremen 2019 ja auch erleiden müssen.

Damit sind nur einige für mich zentrale Fragen angesprochen. Andere wichtige Fragen, die wir erörtern müssen, sind die Erfolge der FDP bei den Erstwählern (aber auch erstaunlich bei den Juniorwahlen); die Frage von Wahlbündnissen gegen die AfD in Ostdeutschland usw. usf.