Kehrtwende für Europa
Seit Wochen leben weltweit Bevölkerungen in Angst vor einem weitgehend unerforschten – für viel zu viele Menschen tödlichen – Virus. Regierungen bewältigen diese herausfordernde Situation in sehr unterschiedlicher Weise. Eins aber eint das Regierungshandeln weltweit: Das Schließen von Grenzen. Für Europa, besser: für die Mitglieder der Europäischen Union, ist dies besonders schmerzlich. Das Herzstück der europäischen Einigung, offene Grenzen, ist in kürzester Zeit Opfer kurzsichtiger nationaler Bewältigungsstrategien geworden. Beim Grünen Länderrat am letzten Samstag hat Jean-Claude Juncker in seiner Gastrede für diesen Schmerz die richtigen Worte gefunden und endete mit dem dringenden Appell: Öffnet die Grenzen! Diesen Appell unterstützten wir – die grünen europapolitischen Sprecher*innen der Landtage, des Bundestags und Abgeordnete des EP – mit einem offenen Brief an Horst Seehofer, in dem wir ihn dringend auffordern, die Grenzen zu unseren Nachbar*innen schnellstmöglich wieder zu öffnen.
Jean-Claude Junckers Rede war aus meiner Sicht einer der besten und wichtigsten Beiträge beim Länderrat, weil er auch auf Folgendes hinwies: Bei aller Angst vor diesem schwer zu kontrollierenden Virus dürfen wir die bereits seit langem bestehenden Aufgaben, die dringend Lösungen benötigen, nicht aus den Augen verlieren. Nach dem ersten Corona-Schock, der verständlich ist, müssen wir als EU endlich Handlungsfähigkeit beweisen, die Pandemie darf die Spaltung in der EU nicht noch weiter verschärfen. Ich bin inzwischen überzeugt, dies kann nur gelingen, wenn wir endlich aus dem lähmenden Krisen-Modus herauskommen.
Euro- und Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Brexit-Krise, Demokratiekrise, Klimakrise und jetzt Virus-Krise. Wir müssen erkennen, dies sind keine Krisen, denen man mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit begegnen kann, weil es zeitlich befristete Krisen sind. Nein, dies sind keine Krisen, sondern schlicht die Probleme und Herausforderungen unserer Zeit. Wir haben es hier mit dauerhaften Phänomenen zu tun:
- Der Klimawandel ist keine Krise, sondern eine existentielle Bedrohung und daher oberste politische Aufgabe, ihn zu mindern.
- Der Brexit ist keine Krise, sondern eine dauerhafte schwere Aufgabe, um Formen einer engen Zusammenarbeit mit einem wichtigen europäischen Partner zu finden.
- Der Demokratieabbau in vielen EU-Mitgliedstaaten ist keine Krise, sondern eine gefährlich dauerhafte Entwicklung, der wir endlich Einhalt gebieten müssen.
- Die Flüchtlingskrise begann nicht erst 2015. Sie dauert bereits so lange an, dass das Leid der hilfesuchenden Menschen und die Schuld, die wir als handlungsunfähige EU auf uns laden, unermesslich groß geworden sind.
Das europäische Einigungsprojekt ist eine der größten Leistungen der letzten Jahrzehnte, daran erinnern und das feiern wir im Rahmen der Europawoche. Die größten Einigungsschritte sind gelungen, als die europäischen Partner*innen weit davon entfernt waren, vertrauensvolle Freund*innen zu sein. Gemessen an dieser Leistung ist es unendlich traurig, dass heute so wenig Problemlösungsfähigkeit innerhalb der Union zu vernehmen ist. Deutschland nahm und nimmt im europäischen Verständigungsprozess stets eine besondere Rolle ein, daran erinnert uns nicht zuletzt auch der diesjährige 75. Jahrestag des Tages der Befreiung. In wenigen Monaten übernimmt Deutschland mit dem Ratsvorsitz eine besonders wichtige Koordinierungsrolle für europäische Politik. Für alle oben benannten Themenfelder braucht es Lösungsideen, bisher sind wenig angemessene Vorbereitungen zu vernehmen.
Wir sind eine Union aus 27 (!) Staaten, ein Kontinent, der im Vergleich zu anderen Regionen der Welt über unendliche Ressourcen, hohe Forschungsleistungen, technologische Bestleistungen, eine weitverzweigte Infrastruktur und eine engagierte Zivilgesellschaft verfügt. Es muss möglich sein, darauf eine europäische Problemlösungsfähigkeit aufzubauen, die den aktuellen dauerhaften Herausforderungen gerecht wird. Wer, wenn nicht wir sollten im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft den Anfang dieser Kehrtwende machen?
Henrike Müller
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