Emanuel Herold: Die EU-Taxonomie ist mehr als nur eine verpasste Chance

Es gibt so etwas wie den „Brüssel-Effekt“: Dieser Begriff der Politikwissenschaftlerin Anu Bradford meint, dass die Europäische Union in der Lage ist, ihre rechtlichen Standards außerhalb der EU durchzusetzen und zwar über Marktmechanismen. Klingt komisch, ist aber so: Am Beispiel der Datenschutzgrundverordnung und weiterer Rechtswerke zur Regulierung digitaler Dienstleistungen hat die EU Rechtsstandards geschaffen, die z.B. auch die großen US-Konzerne wie Google, Meta, etc. erfassen. Kein Zugang zum europäischen Binnenmarkt ohne Einhaltung der entsprechenden Vorgaben – wer mitmachen will, muss sich anpassen. Da die Unternehmen an einem möglichst einheitlichen Rechtsrahmen über verschiedene Märkte hinweg interessiert sind, bauen sich ihre Produkte gänzlich um und nicht nur für den europäischen Binnenmarkt. Brüssel nutzt so seine „soft power“ als Wirtschaftsmacht, um mit der eigenen Rechtssetzung letztlich global wirksame Vorgaben zu machen. Wenn andere Länder dann noch die Standards der EU in ihre eigene Rechtssetzung übertragen, kommt man idealerweise Stück für Stück zu einer vereinheitlichten Regulierung globaler Wirtschaftsbeziehungen.

Die EU-Taxonomie hätte eine vergleichbare Chance geboten: Dabei geht es, vereinfacht gesagt, um die Klassifizierung ökonomischer Tätigkeiten im Hinblick auf ihre ökologische Nachhaltigkeit. Die Klassifikation soll wiederum Grundlage für die Tätigkeit von Investoren und Fonds an den Kapitalmärkten werden, also unterm Strich Investitionen in den nachhaltigen Umbau unserer Wirtschaft lenken. Finanzprodukte, die das EU-Nachhaltigkeitssiegel erhalten, werden – vor dem Hintergrund der diversen klima- und umweltpolitischen Zielsetzungen der EU und der internationalen Gemeinschaft – attraktiver als jene, denen diese Auszeichnung fehlt. Soweit die graue Theorie.
Seit der gestrigen Abstimmung im Europaparlament ist klar, dass die Nutzung von Erdgas und Atomkraft als Energiequellen ebenfalls unter dieses Siegel fallen. Investitionen in Erneuerbare haben finanzwirtschaftlich demgegenüber also keinen spezifischen Vorteil. Unsere grüne Europafraktion beklagt zurecht „Greenwashing“. Der Vorschlag der Kommission, Investitionen in Gas und Atom ebenfalls als „grün“ zu labeln, war ein Kompromiss, der schon zu Beginn des Jahres für Aufruhr sorgte. Er war insbesondere ein Versuch der Vermittlung zwischen zwei Modellen von Energiewende: dem deutschen, das auf Gas als Übergangstechnologie setzt; und dem französischen, das seine gewachsene Kernkrafttradition fortzuschreiben versucht.

Das war vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Was energie- und klimapolitisch schon damals schockierend war, erscheint aktuell auch geopolitisch völlig verrückt: Wie schwer die EU es ohne Russland beim Gas hat, lernen wir derzeit jeden Tag mit jeden neuen Zeitungsartikel. Doch auch der globale Kernenergiemarkt wird von Russland und China dominiert. Die „Geopolitisierung“ der Kernenergie begann 2007, als Putin die Kernenergiebranche seines Landes in einem Unternehmen zusammenfasste (Rosatom). Mittlerweile kontrolliert der Staatskonzern auf dem Weltmarkt 10% des Uranbergbaus, 36% der Urananreicherung, 22% der Brennstoffherstellung und 36% der Reaktorbauten im Ausland. Was das letzte betrifft, knüpft die russische Regierung ein wachsendes Netz von weltweiten Abhängigkeiten: Rosatom verknüpft den Export von Reaktoren mit Verträgen zur Lieferung von Brennstoffen für die gesamte Laufzeit der Reaktoren. Dieses sogenannte „BOO-Modell“ (build, own, operate) klingt nicht nur wie ein Schreckgespenst, es geht auch um: Immer mehr Länder nehmen dieses Angebot an, um aus ihrer Perspektive ihre Versorgung klimagerecht mittels Kernkraft zu gestalten.

Die EU hätte mit einer wahrhaft grünen Taxonomie die Möglichkeit gehabt, Investitionen in diese russisch geprägte Branche an den Finanzmärkten weltweit unattraktiver zu machen – und sie tut es nicht! Kernenergie (und Gas) grün zu labeln, ist also nicht nur ein energiepolitischer Sündenfall, sondern auch eine geopolitische Torheit.

Es ist umso erstaunlicher, dass nicht nur der russisch-ukrainische Krieg hier kein Umdenken gebracht hat, sondern auch die immer gravierenderen Probleme in Frankreich als Kernkraftland Nr. 1. Nicht einmal die Hälfte der französischen Kernkraftkapazität wird derzeit genutzt. Das liegt zum Teil an deren Alter und Zustand und damit verbundenen Risiken im Betrieb. Aber es liegt insbesondere an fehlendem Kühlwasser, da die Flüsse aufgrund steigender Durchschnittstemperaturen nicht mehr genug davon liefern. Kernkraft und Klimawandel vertragen sich nicht, man kann es bei unseren Nachbarn ganz konkret beobachten.

Gas und Klimawandel bekanntermaßen auch nicht. Russland ist nach 20 Jahren Putin vollkommen abhängig von einem ökonomischen Modell fossiler Extraktion, das aufgrund des Klimawandels seine eigenen Grundlagen unterminiert: Rund 65% des russischen Staatsgebiets bestehen aus Permafrostböden. Zunehmend versinken Gaspipelines und andere Infrastrukturen im Schlamm dieser auftauenden Böden, was Milliardenschäden verursacht. Immer neu entstehende Gaslecks bringen zusätzliche Emissionen, was wiederum das Auftauen der Böden beschleunigt.

Die EU hat die Gelegenheit nicht ergriffen, eine über seine Grenzen hinaus wirkende Weichenstellung für Investitionen in eine zukunftsfeste Energieversorgung vorzunehmen. Und das sogar gegen den Willen der Finanzbranche selbst, der nun der rechtliche Rahmen fehlt, um wirklich grün profilierte Finanzprodukte zu entwickeln. Die EU-Kommission und nun auch das Europaparlament haben letztlich auf Druck der nationalen Regierungen das sabotiert, was eigentlich alle immer am liebsten machen: Klare Rahmenbedingungen schaffen, die Marktsignale in eine bestimmte Richtung senden. Es ist verrückt.

Quellen:
https://www.greens-efa.eu/de/artikel/press/eu-parliament-fails-to-vote-down-the-taxonomy
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-die-taxonomie-luegt-es-gibt-laengst-bessere-alternativen-zu-gas-und-atomkraft/28483740.html
https://www.heise.de/tp/features/Die-perfekte-Ausgangslage-fuer-einen-Atom-Blackout-in-Frankreich-7102165.html?seite=all
https://www.heise.de/news/Finanzbranche-kritisiert-gruenes-EU-Label-fuer-Atomkraft-6317240.html
Meyer, Teva: Geopolitik der Brennstäbe, Le monde diplomatique, S. 17.

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