Hermann Kuhn zur Lage in der Ukraine

Ich meine,…
… dass am 1. September nach 85 Jahren die richtigen Lehren gezogen werden müssen!

Am 24. August haben die Ukrainerinnen und Ukrainer auch in Bremen die Neugründung ihres souveränen Staates im Jahr 1991 gefeiert – die historische Chance für Freiheit und Unabhängigkeit nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums. Heute müssen sie diese Unabhängigkeit gegen neuen russischen Imperialismus verteidigen. Sie verdienen und sie brauchen unsere Solidarität dabei!

In den kommenden Tagen, zum 1. September, wird an den Beginn des zweiten Weltkrieges erinnert werden, in dem auch die Ukraine verwüstet worden ist. Wir müssen damit rechnen, dass diese Erinnerung dafür benutzt wird, um als „Lehre“ aus den Schrecken des Krieges die Ukraine zu einem „Frieden“ aufzufordern, der in Wahrheit eine fatale Kapitulation wäre. Ich ziehe eine andere Lehre: Dem Krieg mit Solidarität und Abschreckung begegnen!

„Um 5.45 wird jetzt zurückgeschossen“: Mit der Lüge einer polnischen Bedrohung begründete Nazi-Deutschland am 1. September 1939 den Überfall auf Polen, mit dem es seinen Eroberungs- und Vernichtungskrieg in Europa begann. Wie schon bei der Zerstörung der Tschechoslowakei 1938 ließen die Verbündeten Polen allein, weil sie die Augen vor den imperialistischen Zielen der Nazis verschlossen; die Sowjetunion half direkt bei der Zerstörung Polens.

Erst als der deutsche Krieg sich auch gegen sie richtete, fanden sich alle Angegriffenen zu einer Allianz der Verteidigung zusammen. Unter furchtbaren menschlichen Opfern, vor allem in Osteuropa, von Polen über Belarus bis zur Ukraine und Russland, gelang es dieser Allianz, das nationalsozialistische Deutschland militärisch zu besiegen. Dabei spielte die Lieferung von US-amerikanischen Waffen und Gütern an die Sowjetunion eine wesentliche Rolle.

Mit der Lüge einer Bedrohung der russischsprachigen Menschen in der Ukraine durch das „Nazi-Regime“ in Kiew begründete Russland den Überfall am 24. Februar 2022 auf die Ukraine. Das erklärte Ziel: die souveräne Ukraine zu zerstören und ihre kulturelle und politische Identität zu vernichten. Zuvor hatte Russland bereits eine separatistische Aggression im Donbass angezettelt und völkerrechtswidrig die ukrainische Krim annektiert.

Erklärtes Ziel des Putin-Regimes ist nicht allein die Einverleibung der Ukraine, sondern die Wiederherstellung des alten diktatorischen sowjetisch/russischen Imperiums, die Schaffung einer Ordnung, in der das Recht des Stärkeren gilt statt der Stärke des Rechts. Deshalb bedroht seine mörderische Aggression gegen die Ukraine die rechtsbasierte Ordnung in Europa insgesamt, unsere Sicherheit, in Frieden leben zu können.

Am 1. September wird traditionell in Erinnerung an die deutsche Geschichte der Krieg verurteilt, zu Frieden gemahnt, das ist eine gute Tradition. Aber die Frage ist: welcher Krieg, welcher Frieden? Wir verurteilen den Angriffskrieg, aber nicht den Krieg, der zur Verteidigung von Leben, Freiheit, Souveränität geführt werden muss, mit dem Ziel, die Aggression zu beenden; wir treten ein für das Recht auf Verteidigung. Das bedeutet heute, die Ukraine in ihrem Kampf zu unterstützen, solange es notwendig ist. Und Frieden ist nicht erreicht, wenn er zu Unterwerfung und Gewaltherrschaft führt, wie heute in der Ostukraine unter russischer Besatzung schon zu sehen ist – und wie die Menschen in der Ukraine sie schon unter deutscher Besatzung im Weltkrieg erleben mussten.

Deshalb geht es gerade am „Antikriegstag“ 1. September um die verstärkte Unterstützung für die Verteidigung der Ukraine. Putin hat immer wieder erklärt, was seine Bedingungen für „Verhandlungen“ wären: Annexion der Ostukraine, Sturz der demokratischen Regierung, Abwendung vom Westen. Unter solchen Bedingungen und angesichts des täglichen Mordens an der ukrainischen Zivilbevölkerung machen Verhandlungen gegenwärtig keinen Sinn. Wer Verhandlungen jetzt fordert, der nimmt faktisch die Kapitulation der Ukraine, den Sieg Russlands in Kauf. Deshalb, so schön die Forderung klingen mag: Sie ist unverantwortlich und gefährlich.

Denn auch das ist eine Lehre aus der deutschen Geschichte: Wer einer aggressiven imperialen Macht einfach nachgibt, ermuntert sie zur nächsten Aggression. Auf die Tschechoslowakei 1938 folgte 1939 Polen, auf Polen die Sowjetunion. Auf die Krim folgte die Ostukraine, auf die Ostukraine der Angriff auf Kiew.

Und angesichts der Diskussion über die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen sollten wir uns an die alte Wahrheit erinnern, die der Bundeskanzler aktuell so formuliert hat: Die Entscheidung für diese Waffen „dient dazu, dass Abschreckung wirkt, und sie dient dazu, dass wir, NATO-Staaten und Deutschland, nicht angegriffen werden. Sie dient dazu, dass kein Krieg stattfindet.“ Es ist bitter – aber diese Abschreckung ist in der heutigen Welt notwendig. Es ist sicher richtig, sie mit dem Angebot gemeinsamer Abrüstungsschritte zu verbinden, wenn sich denn dafür ein Partner findet. Danach sieht es aber im Augenblick leider nicht aus.

Deshalb ist heute das Gebot der Stunde: Bereit zu sein für gemeinsame Verteidigung, tatkräftige Solidarität mit den angegriffenen und bedrohten Nationen zu üben.

Hermann Kuhn

Die „Meinung am Freitag“ (MaF) ist ein Meinungsformat der GRÜNEN im Land Bremen. Sie hat den Zweck, fernab von Veranstaltungen eine Kommentierung politischer, gesellschaftlicher oder parteiinterner Ereignisse zu ermöglichen. Die Beiträge geben stets ausschließlich die persönliche Meinung der Autor*in wieder, nicht die der gesamten Partei.

Möchtest du auch einen Meinungsbeitrag einreichen? Dann sende uns deinen Beitrag plus ein Foto von dir bis spätestens Mittwoch, 12 Uhr mittags an info@gruene-bremen.de.