Emanuel Herold: Ostpolitische Abgründe

Es ist ganz erstaunlich, was der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen diese Woche in einem Interview mit dem Weserkurier zur Lage in der Ukraine und dem diesbezüglichen Agieren der Bundesregierung ausgeführt hat. Eine Auswahl:

– Die Ampel-Regierung wäre mit „Sanktionen und Pressionen schnell zur Hand“.

– Das Verhältnis zu einem autoritären Staat wie Russland ließe sich „nicht mit militärischem Druck ändern, sondern indem man ein Vertrauensverhältnis schaffe“.

– Man solle mit Russland verhandeln, schließlich habe die Welt auch den Deutschen „nach 1945 wieder die Hand gereicht.“

Ich fange von hinten an:

Ja, die Westintegration der jungen Bundesrepublik samt Marshall-Plan war nach den Verbrechen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg in der Tat eine historische Form der Vertrauensbildung. Aber sie fand statt, nachdem Nazideutschland militärisch vernichtend geschlagen wurden. Das eine vom anderen zu trennen ist schlichtweg bizarr. Überdies ist es romantisierend, hier nur Vertrauen und Wohlwollen am politischen Werke zu sehen und nicht auch das strategische Interesse der USA, die westlichen Besatzungsgebiete bzw. dann die junge Bundesrepublik dem Zugriff der Sowjetunion entziehen. So nüchtern war die geopolitische Lage am Beginn des Kalten Krieges.

Das heutige Russland, so wie Putin es zwei Jahrzehnte geformt hat, ist mit „autoritär“ nur sehr unzureichend beschrieben. Es bleibt das gut gehütete Geheimnis manch älterer Sozialdemokraten, warum das Putin’sche Russland mit seinem revanchistischen Nationalismus für eine Ostpolitik nach dem Vorbild Willy Brandts ansprechbar, geschweige denn konkret interessiert sein sollte, wie es die auf Machtkonsolidierung und daher an Entspannung interessierte Sowjetunion der 1970er war. Ich möchte in Anschauung der letzten Jahre eher meinen, dass genau dieser Versuch eines Revivals von Entspannungspolitik nach der Annexion der Krim 2014 komplett gescheitert ist.

Zum dezenten Hintergrund von Brandts Ostpolitik gehörten im Übrigen das militärische Abschreckungspotenzial der USA und ein deutscher Verteidigungshaushalt in Höhe von rund 3% des BIP. Verheugens Klage über „Kriegskredite“ – er meint das Sondervermögen Bundeswehr – ist daher gleichermaßen geschichtsvergessen.

Was das Stichwort Vertrauensbildung betrifft, so ist es auch eine besondere Leistung Verheugens, im Zuge seiner Erläuterungen geradezu eine Bringschuld des Westens („Wir haben Russland nicht mehr viel anzubieten“) und der überfallenen Ukraine zu konstruieren („die Verantwortlichen in der Ukraine haben nicht einen Tag lang ernsthaft daran gedacht, die im Abkommen vorgesehenen Maßnahmen umzusetzen“). Geschwiegen wird von ihm derweil darüber, was eigentlich Russland in solchen Gesprächen abzuverlangen wäre, und darüber was zur tatsächlich „vollen Wahrheit“ gehört, nämlich dass Russland die Minsker Abkommen durch militärische Unterstützung der Separatisten im ukrainischen Osten über Jahre zielgerichtet unterlaufen hat.

Die Behauptung, die Ampel wäre „mit Sanktionen schnell zur Hand“, kann im Rahmen des Interviews nur so gedeutet werden: Gemeint sind die Sanktionen gegenüber Russland und gemeint ist, zu schnell zur Hand. Den Gedankengang dahinter würde man gern ausgesprochen hören: Hätte Deutschland als Teil der EU und der NATO im vergangenen Jahr nicht nur bei Waffenlieferungen, sondern auch noch bei Sanktionsmaßnahmen zögern sollen? Wie malt sich Verheugen eigentlich die osteuropäischen Reaktionen auf deutsches Handeln in einem solchen Szenario aus? Ich vermute: Gar nicht. In dieser Hinsicht ist dann doch die Kontinuität zur Ostpolitik im Geiste ihres Erfinders, Egon Bahr, gewahrt: Dieser erhob im Zuge seines politischen Lebens um der deutschen Wiedervereinigung willen das Verhältnis zur Großmacht im Osten zur obersten Priorität und tadelte die Befreiungsbewegungen im Ostblock rund um Solidarnosc sorgenvoll als destabilisierende Kräfte. Letztere hatten aber historisch einen mindestens gleichwertigen, wohl eher größeren Anteil an der Möglichkeit der Wiedervereinigung als die deutsche Ostpolitik.

Auf anderes, was Verheugen in diesem Interview noch von sich gibt, mag ich kaum eingehen – die Toten der Maidan-Revolution sind in seinen Augen offenbar einer „fabelhaften PR-Nummer“ zum Opfer gefallen. Solche Einlassungen sind unerhört schäbig. Aber immerhin: Der Weserkurier wird künftig kaum einen schlechteren Gesprächspartner zum Thema finden können.

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