Sona Terlohr schreibt über das „Brennglas Corona“ 4. Juni 2020 Das konsequente Durchgreifen der Regierung war und ist erfolgreich. Es gab keine Blaupause für diese Situation und es sind Fehler gemacht worden. Wir lernen alle jeden Tag dazu. Es war nötig, aber doch auch sehr erstaunlich, wie schnell wir mit den Einschränkungen unserer BürgerInnenrechte leben konnten. Nun müssen wir sehr darauf achten, uns daran nicht zu gewöhnen. Es ist keine Selbstverständlichkeit. Ganz klar, so lange wie nötig und keinen Moment länger. Wir können wirklich dankbar sein für die ruhige Hand des Senats, aber auch z.B. für unseren seriösen und freien Journalismus hier in Bremen. Die Zuschauer*Innenzahlen von b&b zeigen es – da bleibt kein Platz für Verschwörungserzählungen. Wie ein Brennglas hat der Virus sichtbar gemacht, wo die Defizite liegen. Wir können uns sicher schnell darauf verständigen, dass die Digitalisierung nach Corona absolute Priorität erhält. Aber das Brennglas Corona fokussiert auch andere Problemfelder: Wir könnten doch etwa Bildung noch einmal ganz neu denken oder die Care-Berufe und die Krankenhausstrukturen (Dänemark!) neu zu definieren versuchen. Und die Vorfälle an den diversen Schlachthöfen zerren die Arbeitsbedingungen, Gammelfleisch und Tierquälerei ins Rampenlicht. Nehmen wir mal die Lösungen für Schule und Kita. Das wäre eine große Chance für Kreativität gewesen. Zum Beispiel müsste die Notbetreuung durch zusätzliches Personal entlastet und auch außerhalb der Schulen/Kitas in sehr kleinen festen Betreuungsgruppen angeboten werden. Die Mitarbeiter*innen aus den außerschulischen pädagogischen Bereichen, Studierende,Referendar*innen und Auszubildende könnten in dieser Ausnahmesituation eingebunden werden. Außerschulische Bildungseinrichtungen, die Bürgerhäuser und Quartierszentren sind seit Wochen zu, die Räume stehen leer. Ich plädiere für dezentrale Notbetreuung in festen Kleinstgruppen.Anderseits ist der Digitalschwung absolut faszinierend. Was alles plötzlich möglich ist. Vom Klavierunterricht des Sohnes über den Beziehungsaufbau der Lernbegleiter zu unserer Jüngsten beim gemeinsamen „Dienstagsfrühstück“ bis hin zum gemeinsamen Kochen und Mittagessen mit der schulischen Kleingruppe über Videokonferenz. It’s learning, die bremenweit nutzbare Schulplattform, wird immer selbstverständlicher genutzt. Unsere LaVoSitzungen und LAG-Sitzungen sowieso und letzte Woche auch die erste öffentliche Tagung des Sozialausschusses im Beirat MÖV. Manche werden sich freuen, so häufiger bei Sitzungen dabei sein zu können, weil die Anfahrt z.B.aus Bremerhaven wegfällt oder der Babysitter unnötig ist. Ja, natürlich fehlen die persönlichen Begegnungen, privat ebenso wie beruflich. Das ist mir bei einem Thema kürzlich sehr deutlich geworden, da fehlte mir plötzlich das „Tür&Angel“-Gespräch, die getuschelte Diskussion während einer Sitzung mit meiner Tischnachbarin und der Nachklapp beim Bier in der Kneipe- mir fehlte die Reflexion, die Absicherung, die kleine Nachfrage. Videokonferenzen, Homeoffice und Homeschooling erleichtern uns das Leben jetzt sehr, machen vieles überhaupt erst möglich. Aber wird das alles zu einer Retraditionalisierung führen? Wird die Frau mit Teilzeit-Bürojob in Zukunft im Homeoffice arbeiten und das Präsenzmeeting und das Netzwerken in der Kaffeeküche verpassen? Ich hoffe sehr, dass uns das nicht um Jahrzehnte zurück werfen wird…. Ja, es gibt eine Welt vor Corona und die Welt wird sich verändern nach Corona. Alle betonen das immer wieder. Wird sie das wirklich? Oder wird es wie bei unseren Silvestergelöbnissen sein – die Vorsätze sind groß, aber nach kurzer Zeit wieder vergessen? Wenn wir an all den oben genannten Punkten ansetzen, wird es einen spannenden Diskurs in unserem Zwei-Städte-Land geben. Da sind Konflikte vorprogrammiert, da werden wir streitbar sein müssen, da werden all die Dissonanzen, die sich jetzt noch mit einigen wenigen Demonstranten auf dem Marktplatz verkrümeln, auf den Tisch kommen. Wir haben die Chance, uns sichtbar – noch sichtbarer – zu positionieren. Höher, schneller, weiter hat uns hier her gebracht. Versuchen wir also etwas Neues. Nutzen wir die Chance! Machen wir die Welt ein Stück freundlicher, machen wir Bremen zu einer besseren Stadt. Das ist aufregend, das ist anstrengend, das ist gut.