Bremen als Modellregion für eine Niedrig-Inzidenz-Strategie 16. April 2021 Die Infektionszahlen steigen in Deutschland und auch im Land Bremen seit Ende Februar wieder exponentiell an. Die Lage in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen verschärft sich dramatisch. Die Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin geht davon aus, dass bis Ende des Monats mindestens 6.000 Intensivbetten durch Covid-19-Kranke belegt sein werden – so viele wie auf dem Höhepunkt der zweiten Welle im Dezember vergangenen Jahres. Spätestens im Mai werden wir diese Zahl überschreiten. Bereits jetzt müssen Operationen verschoben werden und die Gefahr, dass es zu einer Triage in unseren Krankenhäusern kommen wird, steigt täglich. Das ursprünglich gesetzte Ziel, aus dem Sommer 2020, eine 7-Tage-Inzidenz von 50 nicht zu überschreiten, wird bereits seit dem 20. Oktober des vergangenen Jahres nicht mehr eingehalten. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die Schaffung eines bundeseinheitlichen Rahmens mit dem Ziel, die Pandemie endlich wirksam einzudämmen. Die in der geplanten Novelle des Infektionsschutz-Gesetzes genannten Maßnahmen sollten aber bereits jetzt noch konsequenter und bei deutlich niedrigeren Schwellenwerten angewendet werden. Nur mit einer Niedrig-Inzidenz-Strategie können wir verhindern, dass unser Gesundheitssystem zusammenbricht. Wir haben es jetzt in der Hand, vermeidbare Todesopfer und Langzeiterkrankungen zu verhindern, dazu müssen wir schnellstmöglich einen Inzidenzwert von unter 10 erreichen. Begründung: Nur niedrige Inzidenzen können die dramatischen Folgen der Pandemie für alle Menschen entschärfen und den Impferfolg sichern Der seit Monaten andauernde »halbe« Lockdown führt zu massiven Unterrichtsausfällen und klassenweise Quarantänen, Schließung von Ladengeschäften und Betrieben, Existenzangst, Burn-Out-Erkrankungen sowie psychischen und emotionalen Schäden. Modellprojekte zur Öffnung, wie sie auch in Bremen diskutiert werden, haben nur dann eine Perspektive, wenn zuvor das Infektionsgeschehen deutlich verlangsamt wird – weit unter eine 7-Tages-Inzidenz von 50. Das Ziel sollte eine Inzidenz von unter 10 sein. Wir weisen an dieser Stelle ausdrücklich auf die Gefahr hin, dass eine lange Zeit mit hohen Inzidenzen einen mühsam und teuer erreichten Impferfolg zerstören kann. Ein starkes Infektionsgeschehen bei laufender Impfkampagne erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Mutationen auftreten, gegen die verfügbare Impfstoffe nichts oder nur wenig ausrichten können. Länder wie Portugal haben gezeigt, dass eine Niedrig-Inzidenz-Strategie auch unter den Bedingungen der aktuellen Mutationen möglich ist. Der geschäftsführende Landesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bremen hat bereits im Januar 2021 ein Positionspapier mit einem Ampel-System veröffentlicht mit dem Ziel, die Infektionszahlen so schnell wie möglich auf einen Inzidenzwert von 35 bzw. noch weiter bis unter 10 zu drücken. Daran hat sich nichts geändert. Mit dieser klaren Zielvorstellung und der oben beschriebenen Notwendigkeit, jetzt wirkungsvolle Maßnahmen zur Infektionsbekämpfung einzusetzen, schlagen wir folgende Lösungsansätze vor: 1 Gesamtgesellschaftliche Verantwortung tragen In der Vergangenheit wurden einzelne Lockerungen und Ausnahmen stets mit dem Argument begründet, dass das Ausbruchsgeschehen in genau diesem Bereich nicht signifikant zum Gesamtgeschehen beitrage. Die Pandemie ist allerdings genau deshalb so schwer zu bekämpfen, weil sich das Gesamtgeschehen mittlerweile aus vielen Infektionsherden zusammensetzt. Folglich ist die einzige Lösung in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens Einschränkungen als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung jetzt gemeinsam schnell umzusetzen. 2 Konsequente Maßnahmen im Wirtschafts- und Berufsleben Viele Unternehmen handeln in der Pandemie verantwortungsvoll und umsichtig. Dennoch wird deutlich, dass die freiwillige Selbstverpflichtung für Home-Office von zu vielen Unternehmen noch immer nicht ausreichend umgesetzt wird. Das Infektionsschutzgesetz muss daher eine Home-Office-Pflicht für alle Arbeitsplätze einführen, an denen das möglich ist. Wo weiterhin in Präsenz gearbeitet werden muss, muss von den Unternehmen ein verpflichtender Selbsttest für alle Arbeitnehmer*innen einmal am Tag umgesetzt werden (bzw. in einem Abstand, der wissenschaftlich begründet werden kann und sinnvoll ist). Die Kosten hierfür dürfen nicht bei den Arbeitnehmer*innen abgeladen werden. 3 Organisation des Schul- und Kitabetriebs Wir verstehen, dass eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Kindeswohl und dem Infektionsschutz getroffen werden muss. Eine hochinzidente Pandemielage mit Infektionen, die von den Kindern in die Familien getragen werden und dort dramatische Folgen haben können, sind allerdings für Kinder und Jugendliche mindestens ebenso belastend wie lange Zeiten von Distanzunterricht. Niedrige Inzidenzen sind deshalb die beste Garantie dafür, das Kindeswohl in allen Belangen schützen zu können. Die in dem Infektionsschutzgesetz genannte Grenze von 200 für den Wechsel in den Distanzunterricht ist deshalb viel zu hoch und für das Kindeswohl kontraproduktiv. Deshalb fordern, wir den Schwellenwert deutlich abzusenken, um das Ziel von einem gesamtgesellschaftlichen Inzidenzwert von unter 10 zu erreichen. Eine tägliche Testpflicht* soll so lange aufrechterhalten werden, bis die Impfquote in der Gesamtbevölkerung hoch genug ist. Wir trauen auch Kindern in der Notbetreuung zu sich testen zu lassen. Die notwendige Betreuung der Kinder durch einen Elternteil muss auch arbeitsrechtlich mit weiteren Fehltagen abgesichert werden. *in einem Abstand, der wissenschaftlich begründet werden kann und sinnvoll ist 4 Kontrolle und Durchsetzung der Maßnahmen Ein Grund für die negative Entwicklung der Pandemie seit dem vergangenen Herbst ist, dass die bestehenden Maßnahmen zum Teil nur halbherzig umgesetzt werden. Deshalb ist es notwendig, dass die beschlossenen Maßnahmen auch konsequent durchgesetzt werden. Das bedeutet, dass die Regeln im öffentlichen Raum, den Betrieben und z.B. bei der Durchsetzung der Quarantäne stärker kontrolliert werden müssen, damit eine gute Nachverfolgbarkeit der pandemischen Situation garantiert werden kann. 5 Ergänzung der Inzidenz-Zahl um eine weitere Kennzahl Zu der Inzidenz-Zahl sollte eine weitere Messgröße hinzutreten: die Aufnahme von Covid-19-Erkrankten auf Intensivstationen. Diese Zahl ist ein verlässlicher und unbestechlicher Indikator für die Entwicklung der Pandemie, die Auswirkung neuer Mutationen und auch für die Wirksamkeit von Impfungen in den kommenden Monaten. Zusätzlich sollen mehr Daten nicht nur erhoben, sondern auch weitergegeben werden bei Menschen, die auf Intensivstationen aufgenommen werden (beispielsweise Beruf und Wohnort). So lassen sich zukünftige Maßnahmen gezielter und wirksamer umsetzen. Außerdem sollten auch die sogenannten ”Long-Covid“-Erkrankten entsprechend erfasst werden, um die Auswirkungen neuer Mutationen besser einschätzen zu können. 6 Unterscheidung zwischen drinnen und draußen Die aktuelle Studienlage zeigt, dass sich in der nun anstehenden wärmeren Jahreszeit Möglichkeiten bieten, im Außenraum anders mit der Pandemie umzugehen als in Innenräumen. Im Frühjahr und Sommer sollten deshalb Sport für Kinder im Außenraum und auch Begegnungen zwischen Menschen aus zwei Haushalten möglich sein. Die Öffnung der Außengastronomie und entsprechende Modellprojekte können aber erst in Betracht gezogen werden, wenn wir eine niedrige Inzidenz erreicht haben. Ein wirksamer und solidarischer Lockdown jetzt, der alle Bereiche der Gesellschaft einschließt, bietet eine Perspektive für alle Menschen und die Möglichkeit, unsere Freiheiten zurückzugewinnen All dies schaffen wir nur, wenn wir es allen Menschen im Land Bremen ermöglichen, die nächsten Wochen Lockdown auch finanziell zu überstehen. Wir brauchen daher ein schnelles, solidarisches und unbürokratisches System, das sicherstellt, dass Löhne, Gehälter, Sozialleistungen, Bafög usw. weiter gezahlt werden. Wir wissen, dass unsere Forderungen eine große Belastung für Menschen – insbesondere für Kinder und sozial vulnerable Gruppen – darstellen. Wir sind uns bewusst, dass alle Menschen müde sind und das Vertrauen in die politischen Entscheidungen erodiert. Genau aus diesem Grund sollten wir uns jetzt auf einen Weg begeben, der eine tatsächliche Entspannung der Pandemielage innerhalb weniger Wochen ermöglicht. So können wir unsere Freiheiten zurückgewinnen. Nachdem dieses Ziel erreicht wurde, brauchen wir verlässliche Regeln, die ein erneutes Ansteigen der Infektionen im Land Bremen verhindern. Im Gegensatz zu den derzeitigen Regeln der Ministerpräsident*innenkonferenzen müssen diese sofort greifen und nicht zum Spielball einzelner Entscheidungsträger*innen werden. Diese Regelungen müssen für alle klar und verständlich kommuniziert werden. Alexandra Werwath, Florian Pfeffer, Florian Kommer, Sona Terlohr, Kristina Kötterheinrich, Maike-Sophie Mittelstädt, David Lukaßen Landesvorstand Bremen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN