Hermann Kuhn zu Israel

Ich meine..

… dass wir bei Kritik an der israelischen Regierung sehr genau unterscheiden müssen.

Jeden Tag, jeden Abend erreichen uns Nachrichten, Bilder der Not und des Elends aus dem Gaza-Streifen, Bilder der Verzweiflung, des Hungers, der Trauer und der Wut der Menschen, die inzwischen meist notdürftig in Zelten leben, mehrfach hin- und hergezogen. Diese Bilder können niemanden unberührt lassen.

Keine Bilder sehen wir in den Nachrichten von den Geiseln, die nun seit über 600 Tagen von der Hamas in stickigen und dunklen Tunneln festgehalten werden, denn diese Bilder gibt es nicht. Aber wir wissen aus den Aussagen anderer Geiseln von den Schrecken dieser 600 Tage. Und die entsetzlichen Bilder der Folter, Vergewaltigung, Entführung und Tötung von Jüdinnen und Juden am 7. Oktober 2023 durch die Hamas geraten bei uns offenbar in Vergessenheit. Aber in Israel sind die Bilder der Geiseln allgegenwärtig, das Massaker hat die israelische Gesellschaft tief verstört. In Sicherheit leben zu können, ist der sehnlichste Wunsch, die höchste Priorität der Menschen in Israel.

Gegenwärtig werden immer schärfer ultimative Forderungen an Israel gestellt, „seinen Krieg sofort zu beenden“. Aber die Wahrheit bleibt: Es ist nicht Israels Krieg, nicht Israel hat diesen Krieg begonnen, sondern die Hamas – sie hat dabei sehr gut gewusst, was die Antwort Israel für die Palästinenser in Gaza bedeuten würde. Und die Hamas hat ihren Krieg bis heute bewusst so geführt, dass zivil und militärisch nicht zu unterscheiden sind; wer seine eigenen Bürgerinnen und Bürger als menschliche Schutzschilde einsetzt, setzt ihr Leben aufs Spiel.

Die Kriegsführung Israels ist hart, es sind tragische Fehler passiert, und mit längerer Dauer der Geiselnahme hat die Härte zugenommen. Aber ein „Kriegsverbrechen“ des Staates Israel hat noch kein Gericht geurteilt. Von einem „Genozid“ kann überhaupt keine Rede sein: kein Befehl ist erlassen, keine Aktion ist erfolgt, die jenseits des militärischen Kampfes darauf zielt, palästinensische Menschen zu töten, weil sie Palästinenser sind. Das haben nur diejenigen schon von der zweiten Woche an behauptet, für die die Hamas eine „Freiheitsbewegung“ ist. Eine absurde Umkehrung von Tätern und Opfern.

Dass dieser Krieg von Israel geführt werden muss, ist die Verantwortung der Hamas, die mit dem Massaker des 7. Oktober ein Fanal zur Vernichtung Israels senden wollte. Der Krieg wäre in dem Augenblick beendet, wenn die Hamas die Geiseln freilassen, die Waffen niederlegen und ihre Terrorherrschaft über Gaza beenden würde. Die will die Hamas aber nicht aufgeben, deshalb hat sie jetzt erneut den Vorschlag einer Waffenpause abgelehnt. 

Dennoch wachsen in Deutschland Kritik und Zweifel an der Politik der derzeitigen Regierung Israels. Aber wir müssen genau hinsehen, was wir kritisieren und was wir von Israel verlangen.

Ich kritisiere nicht grundsätzlich, dass Israel weiter das Ziel umzusetzen versucht, die militärische und politische Infrastruktur der Hamas so weit zu zerschlagen, dass eine – von der Hamas ja angekündigte – Wiederholung eines 7. Oktober nicht möglich ist. Auch wenn die Hamas stark geschwächt ist: Das ist bisher noch nicht gelungen. Wenn und solange die Hamas in Gaza an der Macht bleibt, wird es für die Israelis keine Sicherheit geben – das ist die Erfahrung der letzten 20 Jahre, in denen nach punktuellen Kämpfen die Hamas immer wieder stärker zurückgekommen ist. Es ist inakzeptabel, dass die Hamas wieder stark werden könnte mit Geldern, die später zum Wiederaufbau in den Gazastreifen fließen.

Ich kritisiere nicht grundsätzlich die militärischen Aktionen der israelischen IDF, die hier einen asymmetrischen Krieg führen muss, in dem die Hamas nicht die geringste Rücksicht auf das Leben ihrer Menschen nimmt, wo Schulen als Abschussrampen genutzt werden, Krankenhäuser als Kommandozentralen, Tunneleingänge in Kinderzimmern beginnen, jedes Haus vermint sein kann. Den israelischen Soldaten die Waffen zu verweigern, um das zu überleben, kann nicht unsere Forderung sein. Auch nicht die Verweigerung von Waffen, um das Land gegen Raketenangriffe zu schützen.

Die letzten Monate haben gezeigt, dass die Sicherheit Israels wie seit 77 Jahren bedroht ist – heute durch die Achse des Terrors unter Führung des Iran. Wir müssen verstehen, dass die Frage der Sicherheit für die Menschen in Israel existenziell ist. Ich kritisiere aber, dass die gegenwärtige israelische Regierung diesen Wunsch nach Sicherheit missbraucht, um ihre in weiten Teilen rechtsextreme Agenda der Diskriminierung, der Unversöhnlichkeit, des Hasses und aggressiver Expansion umzusetzen. Das gilt vor allem für die Rechtsextremen; aber Netanjahu folgt ihnen, weil an der Koalition mit ihnen sein politisches Überleben hängt.

Die Versuche, die Unabhängigkeit der Justiz zu beschneiden, habe ich von Beginn an kritisiert. Das gilt auch für die provokative Genehmigung neuer Siedlungen in den Westbanks, für die Hass- und Hetzreden von Regierungsmitgliedern gegen „die“ Araber, für die gewalttätigen Übergriffe radikaler Siedlergruppen.

Sehr kritisch müssen wir den Versuch sehen, Druck auf die Hamas durch die zeitweise Aussetzung von Hilfsgütern auszuüben – auch wenn es stimmt, dass die Hamas Lebensmittel gestohlen und teuer verkauft hat, aber gerade deshalb trifft der Lieferstopp ja nicht zuerst die Hamas, sondern die anderen Menschen. Jeder Gedanke, Hunger der Zivilbevölkerung als militärische Waffe einsetzen zu wollen, muss sich verbieten.

Seit längerem habe ich kritisiert, dass nicht erkennbar war, welche Zukunft sich Israel für die Verwaltung Gazas vorstellt, zunächst übergangsweise unter Kontrolle und später auf Dauer. Versuche, internationale Partner dafür zu finden, in den USA, in Europa, in arabischen Staaten waren nicht erkennbar. Inzwischen hat sich Netanjahu wohl dem Phantasma des „Trump-Plans“ angeschlossen; leider gut möglich ist aber, dass damit nur gemeint ist, die Diktatur der Hamas durch eine dauerhafte Übernahme durch Israel zu ersetzen, den Palästinensern nicht nur morgen und übermorgen, sondern grundsätzlich das Recht auf Selbstbestimmung zu verweigern.

Zu solchen Ideen muss die deutsche Bundesregierung, müssen auch wir klar Nein sagen. Sie sind ein Albtraum für den Frieden in der Region, für die Gazaner, für die Israelis, für die Freunde Israels.

Aber Israel ist nicht nur die gegenwärtige Regierung – Israel ist ebenso die unglaublich starke Zivilgesellschaft, die erfolgreich gegen den Justizumbau gekämpft hat, die nach dem 7. Oktober die gegenseitige Hilfe organisiert hat und die täglich für die Freilassung der Geiseln auf die Straße geht. Diese Menschen müssen wir auch dadurch unterstützen – und sie hoffen da auf uns –, indem wir öffentlich Kritik üben, wo es notwendig ist; sie gegen feindselige Kritik verteidigen und unsere tiefe Verbundenheit mit den Bürgerinnen und Bürgern eines Staates bewahren, der als „Haus des Lebens“ gegründet wurde und seine schiere Existenz bis heute in einer Umgebung verteidigen muss, die diese Existenz auslöschen will.

Hermann Kuhn

4. Juni 2025

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