40 Jahre Bündnis 90/Die Grünen – Geburtstagsrede von Lukas Beckmann

Burg Wegberg, 02.02.2020

Geburtstagsrede von Lukas Beckmann (eine ähnliche Rede hielt das Gründungsmitglied am 30. November auf unserer LMV, deshalb hier nochmal zum Nachlesen):

Ein 40ster Geburtstag kann herausfordernd sein. Einerseits zu alt, Erfahrungen ignorieren zu können und andererseits noch zu jung, nicht mehr daraus lernen zu können. Ich danke dem Vorstand für die Einladung und freue mich heute dabei zu sein. Wir feiern in diesem Jahr den 40sten bundesweit und haben Grund dazu, auch wenn wir nur einen Teil der Ziele vor 40 Jahren erreicht haben – bei manchen sage ich heute – das ist ganz gut so. Feiern heißt Erinnern und Auftanken für Aufgaben, die vor uns liegen.

Die Grünen haben das ökologische Zeitalter in die Gesellschaft und in die Parlamente getragen. Das war unsere zentrale Aufgabe und dies ist unser größtes Verdienst.

Heute sind wir alle 40! Ob Sie vor 40 Jahren schon dabei waren oder vielleicht erst vor 4 Tagen Mitglied geworden sind: Die Geschichte der Grünen gehört uns allen – selbst denen, die nicht Mitglied sind bei uns. Wir wurden Teil der bundesdeutschen, der gesamtdeutschen und europäischen Geschichte und spätestens seit 1992 – der Konferenz in Rio de Janeiro für Umwelt und Entwicklung – sind wir Teil eines weltumspannenden Netzwerks für die Bewahrung, den Schutz und die Entwicklung unserer natürlichen und gesellschaftlichen Lebensgrundlagen. Freiheit, Demokratie, Selbst- bestimmung, Gleichberechtigung, Diversität, kulturelle und religiöse Vielfalt geben uns Orientierung.

Mitgründer und Bundesgeschäftsführer der Grünen von 1979-1984, Parteivorsitzender, Mitgründer und Geschäftsführer der Heinrich Böll-Stiftung, von 1991 bis 2010 Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Bis 2017 Vorstand der GLS-Treuhand und der GLS Bank Stiftung. Seitdem selbständig.

GRÜN ist ein Symbol für die Kraft des Lebens. Meine Erinnerungen an die Anfänge der Grünen sind Erinnerungen an eine schier unerschöpfliche Energie. Wir kannten keine Zweifel, die Festungen von Wirtschaft und Gesellschaft in einer überschaubaren Zeit grundlegend verändern zu können. Wir waren noch ohne PC, Internet, E-Mail, Handy und Facebook unterwegs. Modern gesprochen also schon damals postdigital.

Im Juni 1979 lag die Europawahl mit einem 3,2%-Ergebnis gerade hinter uns. Und wir fragten uns jetzt: Wie machen wir weiter und mit wem? Wir wollten unser gesellschaftspolitisches Spektrum erweitern, jedoch nicht die Tür öffnen für ideologische Auseinandersetzungen der Nach-68er, die sich in K-Gruppen organisiert an Universitäten und in Teilen der außerparlamen- tarischen Bewegung austobten und durch Zersetzungsstrategien schon genug Unheil angerichtet hatten. Was war unsere eigene Sprache? Wir mussten sie noch finden. Welchen Klang hatte sie? Wen wollten wir ansprechen, wen auf keinen Fall verschrecken? Um diese Fragen ging es.

Drei Monate vor Gründung der Europagrünen hatte die Frankfurter Rundschau im Dezember 1978 den „Aufruf zur Alternative“ von Joseph Beuys veröffentlicht – Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie, Bildhauer und Mitgründer der Grünen. Darin entwickelte er den methodischen Ansatz „Einheit in der Vielfalt“. Einheit als Bereich der Gemeinsamkeit und Vielfalt als Bereich der Freiheit, der uns und der Gesellschaft Raum geben sollte, uns kennen zu lernen im Diskurs über Ziele und Wege. Das erste Bundesprogramm sollte dann tatsächlich zwei Teile haben. Einen A-Teil für das Gemeinsame und einen B-Teil für alles, worauf wir uns nicht einigen konnten.

Nach der Europawahl 1979 versammelten wir uns in Kassel. Wir waren mit 3,2%-Ergebnis sehr zufrieden und beschlossen uns im Januar 1980 in Karlsruhe zu gründen. Dies sollte im November davor auf einem bundesweiten Treffen in Offenbach vorbereitet werden. Zur Europawahl

hatten sich noch weite Teile der Umweltbewegung zurückgehalten. Sie bekannten sich nicht zu den Grünen, auch wenn viele mit uns sympathisierten. Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) war gespalten, die einen unterstützten den neuen Weg von Petra Kelly und Roland Vogt (beide waren im Bundesvorstand des BBU und im Bundesvorstand der Europäischen Föderalisten), andere blieben jedoch in der SPD oder anderen Parteien. Zudem waren den allermeisten Aktivist*innen Parteien ohnehin grundsätzlich sehr fremd. Ab 1977 traten erste grüne Listen zu Kommunalwahlen an, 1978 folgten grün-bunt- alternative Kandidaturen in Berlin, Hamburg, Münster, Bielefeld und anderen Städten. Auch sie hatten sich zur Europawahl noch skeptisch zurückgehalten. Sie konnten sich wohl schwer vorstellen, , Herbert Gruhl oder August Haußleiter als Vorsitzende vor sich zu haben – der eine gerade erst aus der CDU ausgetreten, der andere bis in die 50er Jahre stellvertretender Vorsitzender der CSU. Schon anderthalb Jahre später hatte sich beide zurückgezogen, August Haußleiter unfreiwillig, nachdem der Spiegel seine uns verschwiegene Rolle in der Nazizeit veröffentlicht hatte.

Während des Europawahlkampfes 1979 hatte Petra Kelly am 1. Mai zu einem ersten grünen Frauentreffen in die Bundesgeschäftsstelle eingeladen, unterstützt von Eva Quistorp aus Berlin. Petra Kelly, sie war die zentrale Gründungspersönlichkeit der Grünen, hat als Feministin die Frauenfrage mit der ökologischen Frage verbunden und verdeutlicht, dass es um Werte geht, die zusammengehören und gemeinsam erkämpft werden müssen. In den grünen, bunten und alternativen Listen fanden viele zusammen aus der Umwelt-, Anti-Atomkraft- und Naturschutzbewegung, aus der Frauenbewegung, der gerade entstehenden, neuen Friedensbewegung, aus Dritte-Welt–Gruppen und aus Solidaritätskomitees gegen Apartheid und Militärdiktaturen. Auch wirkten viele mit bei Amnesty International. Was damals in unserem politischen Spektrum jedoch fast gänzlich fehlte, waren Gruppen, die sich auch für Grund- und Menschenrechte in der Sowjetunion, der DDR und dem gesamten Ostblock einsetzten. Dies änderte sich erst Anfang der 80er Jahre, als die Grünen auch in der Friedensbewegung das Primat der Unteilbarkeit von Frieden und Menschenrechten als untrennbares Wertepaar stärker in den Fokus rückten.

In den 60er Jahren war Umweltschutz noch kein öffentliches Thema. Ende der 60er Jahre machte ich eine Ausbildung zum Landwirt, in der Berufs- und Fachschule kam Ökologie jedoch nicht vor. Das änderte sich erst im Biologieunterricht am Kolleg und später im Studium. Wilhelm Knabe, Forst- wirt und erster Vorsitzender der Grünen in NRW (er wird in diesem Jahr 97 und hat im Dezember seine Autobiografie veröffentlicht) war der erste in meinem Umfeld, der als Beruf ganz selbstverständlich „Ökologe“ angab.

Beim Eintritt in das ökologische Zeitalter spielte auch die Raumfahrt eine wichtige Rolle. Als im Juli 1969 die ersten Menschen auf dem Mond landeten, der Menschheit erstmals per Satellit Bilder unserer Erde aus dem Weltall gezeigt wurden, hat sich unser Bewusstsein von der Dimension unseres Lebensraums fundamental verändert. Mit dem Ziel, den Mond zu erkunden, entdeckte sich auch die Menschheit neu. Wir sahen die blaue Kugel – das damals bei uns noch nicht weit verbreitete Fernsehen machte es zu einem Menschheitserlebnis. Dass alles Leben – Wälder, Wiesen, Äcker, Wasser, Tiere und Menschen – miteinander verwoben ist, bekam sinnliche Konturen. Bilder waren damals durchdringender, singulärer als heute, sie mussten nicht um Aufmerksamkeit kämpfen. Markenbildung stand ganz in den Anfängen. 1975 gestaltete die Dänin Anne Sund eine rote Sonne, auf dem gelbem Grund stand „Atomkraft Nein Danke!“ Wahrscheinlich hat kein anderer Button jemals eine so hohe Auflage erreicht.

Das zweite große internationale Medienereignis, dass die Welt zusammenführte, war ein Elvis Presley-Konzert auf Hawaii 1973, das erste Konzert in der Geschichte der Menschheit, das in voller Länge in mehrere

Länder übertragen wurde. Nicht nur das Aufkommen der Grünen, auch die Popkultur spiegelt in den 70er Jahren das Zusammenrücken der Menschheit am Beginn eines ökologischen Zeitalters. Und schließlich Greenpeace. 1970 fährt Greenpeace erstmals mit einem Schiff zu einer Insel an die Südwestküste Alaskas, um nordamerikanische Atomtests zu stören. Es gab damals viele Zeichen, die eine neue Ära einläuteten. 1980 protestieren Greenpeace-Mitglieder in Deutschland erstmals zeitgleich in vier Städten und kippen in Brunsbüttel mehrere Tonnen tote Fische vor den Bayer- Konzern, der seinen giftigen Müll direkt in die Nordsee verklappte. 1973 demonstrieren in Bonn einige Tausend Frauen gegen den §218, es gibt die ersten Frauenbuchläden, Frauenverlage und Zeitschriften, 1974 in Berlin das erste Frauenzentrum. Die neue Frauenbewegung kämpft für Gleichberechtigung und sexuelle Befreiung, gegen patriarchale Strukturen, auch ausgelöst durch Erfahrungen von Frauen im männerdominierten SDS, dem Verband der Studentenbewegung Ende der 60er. Die Insignien der Alternativkultur in den 70ern sind Buttons gegen fast alles, viele bewegen sich wie mobile Litfaßsäulen, Feministinnen bevorzugen lila Latzhosen, Umweltschutzpapier ist Pflicht, wer nicht in Wohngemeinschaften wohnt, ist verdächtig, Möbel vom Sperrmüll selbstverständlich, der Verschwendung wegen.

1972 erschien das Buch „Die Grenzen des Wachstums“, 1975 „Ein Planet wird geplündert“ von Herbert Gruhl, der 1979 die Grünen mitgründete und ihr erster Vorsitzender war. Sein Motto: Wir sind nicht rechts oder links, sondern vorn. Beide Bücher waren für uns Vorboten, sie vermittelten uns die Herausforderungen des beginnenden ökologischen Zeitalters. Als wir die November-Versammlung in Offenbach vorbereiteten, kam es zum ersten ernsthafteren Konflikt mit Herbert Gruhl. Wer sollten unsere Gastredner sein? Milan Horaček (1968 aus der Tschechoslowakei geflohen und Gründungsmitglied aus Hessen) – Milan und ich besuchten Gruhl in seinem Bundestagsbüro. Wir wollten Rudi Dutschke einladen, Gesicht und Anführer der 68er Studentenbewegung, ebenso Willi Hoss, Betriebsratsvorsitzender bei Daimler, der erfolgreich gegen die Liste der IG Metall angetreten war und Ökonomie und Ökologie zusammen dachte, und schließlich Rudolf Bahro, Autor des Buches „Die Alternative“. Er war wenige Monate vorher als politischer Häftling in der DDR aus dem Gefängnis entlassen und in den Westen abgeschoben worden. Gruhl lehnte unseren Vorschlag ab. Er sah seine Mitglieder in der Grünen Aktion Zukunft (GAZ) mit diesem gesellschaftsökologischen Ansatz überfordert. Unsere Reaktion überraschte ihn: Auch für uns sei kein Platz bei den Grünen, wenn für sie kein Platz sein sollte. Wir einigten uns, dass die Versammlung es mehrheitlich entscheiden soll. Und die stimmte dafür. In der Nacht vor dem zweiten Tag diskutierten und redigierten wir die Reden der drei bei Milan in der Frankfurter Wohnung. Rudi Dutschke wandte sich in seiner engagierten Rede vor allem gegen die dogmatische, in kommunistischen Gruppen organisierte Linke, die versuchen würde, ihr politisches Scheitern in den 70ern auszublenden und nun im Gleitflug zu den Grünen wechseln zu wollen, ohne Ökologie als Zukunftsaufgabe verstanden zu haben und auf ein neues Demokratie- und Politikverständnis vorbereitet zu sein. Es war die letzte große öffentliche Rede von Rudi Dutschke wenige Wochen vor seinem Tod Weihnachten 1979.

Die Gründung in Karlsruhe im Januar 1980 war keine offene Versammlung. Wer stimmberechtigt teilnehmen wollte, musste spätestens bis Ende November Mitglied geworden sein. Der Gründungsbeschluss war lediglich eine Namensänderung von der Sonstigen Politischen Vereinigung zur Partei Die Grünen. Dies war wichtig, denn nur durch diese Rechtsnachfolge konnten wir den Gründungskonsens der Europagrünen schützen und die Wahlkampfkostenrückerstattung behalten – immerhin 4,8 Mio DM, um Kreis- und Landesverbände aufzubauen. Allerdings brauchten wir für die Satzungsänderung eine qualifizierte 2/3-Mehrheit und das machte die Gründung zu einer Herausforderung. Nicht nur 1004 Mitglieder und weitere Gäste und Journalist*innen waren in der Stadthalle versammelt, parallel trafen sich nebenan in einer kleineren Halle weitere ca. 500 Menschen aus

Umweltgruppen, aus der autonomen Szene und aus K-Gruppen. Der alles überlagernde Streitpunkt war die sogenannte Doppelmitgliedschaft. Mitglieder von K-Gruppen wollten Mitglied der Grünen werden, gleichzeitig jedoch in ihren alten Parteien und Strukturen bleiben. Der Konflikt eskalierte, über Stunden war nicht klar, ob uns die Gründung im ersten Anlauf gelingen würde. Sie gelang dann doch. Die Uhr in der Halle wurde angehalten, die Züge warteten zwar nicht, aber die Mitglieder stürmten nicht aus dem Saal und so blieben wir beschlussfähig bis zur Gründung in letzter Minute.

Wir waren unzulänglich in vielen Bereichen, aber der kulturelle Aufbruch in der Gesellschaft hat fast alles überlagert. Dies zeigte vor allem der Bundestagswahlkampf 1983. Annemarie und Heinrich Böll unterzeichneten als erste unseren Wahlaufruf. Sie hatten uns auch zur Europawahl unterstützt. Und Europas größter Konzertveranstalter, Fritz Rau, stieg pro bono voll in unseren Wahlkampf ein. Ich fuhr mit ihm kreuz und quer durch die Republik, wir mieteten die 12 größten Hallen in Deutschland, wurden von den prominentesten Musikern wie Udo Lindenberg, Gianna Nannini, Joan Baez, BAP, Konstantin Wecker und von vielen anderen unterstützt – Wahlkampf als kultureller Aufbruch. Petra Kelly trug Gedichte vor, Otto Schily spielte am Flügel – ihre Reden waren wie die aller anderen Kandidat*innen sehr kurz. Und die Hallen waren voll. In der Dortmunder Westfalenhalle 12.000 Menschen, in Essen 8.000, in der Kölner Sporthalle

9.000 – und alle zahlten 15 DM Eintritt. Dennoch war unser Spielraum am Wahlabend im März 1983 nicht sehr groß. Trotz einer sehr starken Anti- AKW-Bewegung, einer Friedensbewegung, die Hundertausende mobilisiert hatte und weiter mobilisierte und einer stark wachsenden Frauenbewegung schafften wir den Einzug in den Bundestag nur knapp. 0,7% weniger Stimmen und wir wären an der 5%-Hürde gescheitert.

40 Jahre. Unsere Geschichte ist nicht gradlinig, sie ist brüchig, von Vorurteilen und Fehlurteilen begleitet, die immer wieder viele verschreckt haben, auch viele derer, die unsere Ziele eigentlich teilten. An diesem Geburtstag sollten wir auch unsere Fehler und Grenzen um unserer selbst willen benennen, es macht uns bescheidener, weniger überheblich und stärkt uns für zukünftige Aufgaben. Dass wir 1989/1990 die historische Bedeutung des Mauerfalls für den Fortgang der Geschichte und für die unmittelbaren Auswirkungen auf Europa nicht erkannten, wiegt bis heute schwer. Dass wir so daneben lagen, war nicht das Ergebnis unbedachter Basisbeschlüsse, sondern entsprach damals dem Bewusstsein vieler Grüner wie Joschka Fischer, Antje Vollmer und vieler anderer. Die Wähler*innen warfen uns aus dem Bundestag, sie schickten uns in die Kur, und wir hatten Glück, dass Bürgerrechtler*innen aus der DDR uns unter dem Namen Bündnis 90/Die Grünen weiter im Bundestag vertraten und durch ihre Bündnisbereitschaft in die zweite Hälfte der 90er hinüberretteten.

Wir waren nicht die erste grüne Partei – 1972 gründeten Grüne in Tasmanien/Neuseeland die Value-Party – jedoch konnten wir früher als andere im öffentlichen Bewusstsein national und international eine einzigartige Wirkungsgeschichte erzeugen. Dass die ökologische Frage so tief in das Bewusstsein der Menschheit eingedrungen ist, ist ein großes Verdienst vor allem der Grünen. Umso mehr treibt uns heute die entscheidende Frage um: Wie wird aus Wissen Veränderung? Was braucht es, um gesellschaftlich und parlamentarisch eine Gestaltungkraft zu erzeugen, die nicht nur unser Bewusstsein, sondern auch unser Leben und Wirtschaften, d.h. unsere Lebenswirklichkeit in die Nachhaltigkeit führt und Klimawandel und Artensterben stoppt?

Antworten auf diese Frage sind für uns, für Gesellschaft und Wirtschaft zu der zentralen Aufgabe geworden. Fridays for Future spiegelt auch uns diesen weißen Fleck gesellschaftspolitischer Veränderungsstrategien. Die atmosphärische CO2-Konzentration wird seit 1958 kontinuierlich gemessen. Parallel explodierte der Verbrauch von Kohle, Öl, Gas. Immer neue Quellen wurden erschlossen. Der weltweite, wachstumsgetriebene Anstieg der CO2-

Konzentration, eine Entwicklung wider besseren Wissens, die leider weiterhin auch in dieser Region eine reale Grundlage hat. Schon auf der ersten UN-Umweltkonferenz im Juni 1972 in Stockholm – zwanzig Jahre vor der Konferenz in Rio de Janeiro – kritisierten Entwicklungsländer eine fehlende Nord-Süd Gerechtigkeit. Warum – so fragte die indische Ministerpräsidentin Indira Ghandi – sollten gerade jene Länder sich mit Wachstum zurückhalten, die bisher im Vergleich zu den Industrieländern viel weniger Ressourcen verbraucht hatten? Das ist jetzt fast 50 (!) Jahre her. Auch die 1988 vom Bundestag eingesetzte Enquetekommission für

„Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ hat parteiübergreifend überzeugende Ergebnisse und Handlungsoptionen vorgelegt. Doch nennenswerte ordnungspolitische Konsequenzen für Verkehr, Landwirtschaft und Energie blieben aus.

Viele Grüne tun sich schwer, von grüner Seite kritisiert zu werden. Warum

– so fragen sich heute manche – werden wir von Fridays for Future genauso adressiert wie andere Parteien? Die Antwort liegt auf der Hand und wir müssen sie wirklich sehr, sehr ernst nehmen: Weil diese Generation, Kinder und Enkel der aufkommenden Grünen, ihre eigene Zukunft und das Leben von Natur und Menschheit unmittelbar gefährdet sehen. Wie sie – anders, als viele es wahrnehmen – nicht nach Schuldigen suchen, weil nicht sie verantwortlich sind für eine Politik wider besseren Wissens, weil sie alle demokratischen Parteien und die gesamte Gesellschaft adressieren, weil sie jeder Ausrede den Weg versperren. Von Menschen gemacht heißt für sie durch Menschen veränderbar! Es ist eine konsequente, wenn auch für uns nicht bequeme Haltung, aber sie ist berechtigt. Die Kraft dieser Bewegung entsteht, weil sie sich an alle richtet und – anders als wir in früheren Jahren

– für ihr Selbstbewusstsein ohne Feindbilder auskommt.

Wir sind mitverantwortlich für gesellschaftliche und parlamentarische Mehrheiten, die eine notwendige und deshalb auch keine schmerzfreie Ordnungspolitik auf allen föderalen Ebenen durchsetzen für Klima- und Artenschutz. Wir können uns dieser Mitverantwortung auch in der Opposition nicht entziehen.

Warum mehren sich heute Diskussionen über eine Konkurrenz zwischen Ökologie und Demokratie? Man zeigt auf China. Aber doch nicht Ökologie sagt der Demokratie den Kampf an. Unsere liberale Demokratie ist gefährdet durch Populisten, Nationalisten und neue Nationalsozialisten. Demokratien können, wenn sie wollen. Als wir in der rot-grünen Bundesregierung erste Schritte einer neuen Landwirtschaftspolitik durchsetzen konnten, den Atomausstieg erreichten und das Erneuerbare- Energien-Gesetz in Kraft trat, betrug der Anteil an erneuerbaren Energien gut 5%. Heute sind es 40% – ein großer ordnungspolitisch durchgesetzter Erfolg. Erinnern wir uns: Die OPEC drosselte 1973 ihre Ölfördermengen, um den Westen zu erpressen und einen Boykott gegen Israel zu erreichen. Der Westen beugte sich den steigenden Preisen nicht, ein Energie- Sicherungsgesetz wurde in wenigen Wochen verabschiedet, Fahrverbote an Sonntagen und auf allen Autobahnen durfte höchstens 100 km/h gefahren werden. Dass Geschwindigkeit und Sprit-Verbrauch miteinander korres- pondieren, lag damals noch auf der Hand. Niemand versteckte sich hinter Expertengutachten.

Wenn heute ordnungspolitische Maßnahmen für eine drastische Redu- zierung von CO2-Emissionen und für den Schutz der Artenvielfalt im Parlament keine Mehrheit finden, so liegen die Ursachen dafür nicht in unserer demokratischen Grundordnung. Wir verweisen gerne und nicht zu Unrecht auf Machtinteressen. Doch dieser fast immer richtige Hinweis zeigt doch keinen Ausweg. Machtinteressen werden ganz wesentlich auch geschützt durch tradierte Handlungsmuster in Parteien und zwischen ihnen und in staatlichen Institutionen der Exekutive. Politik, so wie sie gemacht und kommuniziert wird, entspricht den neuen Herausforderungen und auch den Erwartungen der Öffentlichkeit nicht mehr.

Viel mehr ist möglich, wenn Menschen nicht unterfordert werden! Alle – auch wir – wollen gesehen, wahrgenommen und gehört werden – aber viele wollen keineswegs Recht behalten, wenn Ordnungspolitik als Recht für alle gilt und wenn im Alltag für sie als Bürgerin und Bürger konkret erfahrbar ist, dass sie die Folgen von Ordnungspolitik für Klima- und Artenschutz als Gleiche unter Gleichen mittragen und nicht am Ende nur die Dummen sind. Aus öffentlicher Sicht fehlt der Politik eine klare Orientierung am Gemeinwohl. Eine Empfindung für das, was man tut oder einfach nicht tut, was anständig ist, was solidarisch ist oder Missachtung ausstrahlt – dieses Rechtsempfinden lebt in fast jedem einzelnen Menschen. Gerade Werte wie diese halten viele Menschen auf Distanz zu einer Politik, die sich nicht am Gemeinwohl orientiert. Es sind jene Menschen, die wir in besonderer Weise brauchen für gesellschaftliche und politische Mehrheiten.

Als Michelangelo zu Beginn des 16. Jahrhundert aus einem 5 Meter hohen Granitblock die David Skulptur schuf, wurde er gefragt, wie er dies erschaffen konnte. Seine verblüffende Antwort: Ich habe sie nicht erschaffen, sie war schon da, ich habe sie nur freigeschlagen. Die Politik selbst braucht als Methode und Verfahren Inspirationen und Mut, ihre eigene Weiterentwicklung freizuschlagen. Ich bin ermutigt vom Beispiel des irischen, vom Parlament eingesetzten Bürgerrates, deren Mitglieder repräsentativ nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden. Ihr Ergebnis wurde in einem Referendum der Bevölkerung zur Entscheidung vorgelegt: Was nach jahrzehntelangem Streit niemand für möglich gehalten hatte im tief katholisch geprägten Irland: Die in zwei Jahren erarbeiteten Vorschläge zur Legalisierung von Abtreibung und gleichgeschlechtlichen Ehen erhielten eine verfassungsändernde Mehrheit.

Die Organisation Mehr Demokratie, die ich in den 80ern mitgründete und die seit 1990 in allen Bundesländern Volksinitiativen, -begehren und Volksentscheide erstmals durchgesetzt hat oder deren Verfahren verbesserte, hat die Erfahrungen in Irland intensiv studiert und ausgewertet. Unter Federführung unserer Vorstände Claudine Nierth und Roman Huber haben wir in den letzten eineinhalb Jahren – unterstützt von der Schöpflin- und der Mercator Stiftung – 1,5 Millionen € investiert. Dazu haben sechs regionale Foren stattgefunden und in Leipzig ein erster Bürgerrat als Pilotprojekt mit 160 zufällig ausgewählten Personen, der an zwei mal zwei Tagen zusammenkam und von professionellen Moderatoren unterstützt wurde. Bei der Zufallsauswahl arbeiteten wir mit Einwohnermeldeämtern zusammen, damit nach Geschlecht, Lebensalter, Bildung, Verteilung Stadt-Land, Migrationshintergrung, Lebensalter, Bildung ein repräsentativer Bürgerrat entsteht. Die Ergebnisse haben wir – wie vorher mit allen demokratischen Parteien vereinbart – dem Präsidenten des Bundestages übergeben und wir sind zuversichtlich, in nicht allzu ferner Zukunft auch in Deutschland Bürgerräte zu haben, deren Aufgaben, Verfahren und Rechte und Pflichten gesetzlich verankert sind.

Bürgerräte ersetzen weder Parteien noch Parlamente, aber sie entlasten sie. Wir brauchen Orte und Räume wo Menschen aus der gesamten Bevölkerung sich als Andersdenkende und vor allem als Bürgerinnen und Bürger begegnen und zuhören können mit dem Blick auf Unmittelbares und auf das größere Ganze, ohne sich als Vertreterinnen und Vertreter von Parteien oder Verbänden in fest gefahrenen und langweilig gewordenen Rollen begegnen zu müssen. Hier stehen Parteien und Gesellschaft vor einem Lernprozess, der Neues freilegt.

Kein Mitglied einer Partei sollte sich heute allein damit zufriedengeben, Mitglied der richtigen Partei zu sein. Parteien bündeln gesellschaftliche Grundströmungen und machen so ordnungspolitische Entscheidungen erst möglich. Gleichzeitig mindern sie die potentielle Kraft und Macht von Menschen gemeinsamer Überzeugungen, die verschiedenen Parteien angehören. Und aus dieser Sackgasse müssen wir heraus. Wir müssen den Ausweg daraus frei legen und unsere Köpfe und Herzen für neue Formen politischer Kommunikation öffnen.

Mit diesem Rückblick und Ausblick gratuliere Ihnen und uns zum 40. Geburtstag. Zudem freue mich sehr, heute auch Zeitzeuge einer besonderen Würdigung für Christa Nickels sein zu dürfen. Uns verbindet nicht nur eine grüne Gründungsgeschichte, sondern auch die der Heinrich- Böll-Stiftung, an der Christa einen wesentlichen Anteil hat. Die Stiftung war ein Signal an die Bedeutung kultureller Prägungen für gesellschaftliche Veränderungen und die Grenzen der Wirksamkeit von Parteiprogrammen. Menschen wollen nicht nur verharren, sie fordern jedoch von denen, zu Recht eine Orientierung, die Vertrauen schenkt und nicht nur Vertrauen fordert.

Viele – sicher auch hier – denken an die nächste Bundestagwahl. Entscheidend für unsere Zukunft ist nicht, ob sie oder er Kanzlerin oder Kanzler werden soll – beide können das! Entscheidend ist, ob die Mehrheiten in der Gesellschaft und im Parlament neue Horizonte so mittragen, dass nicht die lähmende Kunst des Möglichen weiterregiert, sondern die Kraft des Notwendigen Regierungshandeln wird bestimmen können. Das ist der nächste, der entscheidende Schritt für die Grünen, für die Gesellschaft, für unsere Zukunft.

Vielen Dank!