Moritz Holtappels: Von roten Linien und Fallstricken

Da wir seit geraumer Zeit über das Festschreiben roter Linien diskutieren, möchte ich eine Einordnung versuchen.

Eigentlich sollte das alles ganz einfach sein: Möchten wir in der Sache einen Unterschied machen, müssen wir den Entscheidungsprozess mitbestimmen können, um dann das Beste im Sinne der Sache herauszuholen. Diese Logik der Mitbestimmung ist zum Beispiel auf betrieblicher Ebene der Normalfall. Ein Betriebsrat der aus Protest auf Mitbestimmung verzichtet, schafft sich selbst ab.

Für Parteien ist es nicht ganz so einfach. Hier muss zunächst die anonyme Wählerschaft davon überzeugt werden, dass die Haltung in der Sache klar ist und diese auch mit großem Einsatz verfolgt wird. Werte und Ideen werden ausformulieren (z.B. als Wahlprogramm), um die Haltung zu einer Sache sichtbar zu machen. Aber es könnte nur leeres Gerede sein. Wie kann die Wählerschaft nun darauf vertrauen, dass für die Sache tatsächlich das Beste herausgeholt wird? 

Hier haben nun rote Linien die Funktion, Entschlossenheit zu symbolisieren. Die Kompromisslosigkeit und der mögliche Verzicht auf Mitbestimmung für den Fall, dass Minimalforderungen nicht erfüllt werden, symbolisieren, dass sich die Partei in den Dienst der Sache stellt und sich bindet. Ein Problem dabei ist, dass Minimalforderungen schnell zu Maximalforderungen werden, um die Entschlossenheit noch deutlicher zu machen. Ein viel größeres Problem ist aber, dass die angekündigte Kompromisslosigkeit unsere Demokratie dysfunktional werden lässt, wenn die Mitbewerber sich gezwungen sehen, ähnlich zu verfahren. An diesem Punkt stehen wir heute. Was Kompromisslosigkeit bewirkt, haben wir in der letzten Woche deutlich zu spüren bekommen. So werden rote Linien schnell zu Fallstricken der Demokratie. 

Deswegen möchte ich dafür werben, auf eine andere Art zu zeigen, dass uns vertraut werden kann, „das Beste“ herauszuholen. Das geschieht ganz einfach, indem wir als Partei unseren Kandidatinnen und Kandidaten vertrauen, „das Beste“ herauszuholen. Dieses Vertrauen müssen wir nach außen tragen. Unsere Kandidatinnen und Kandidaten brauchen keine roten Linien. Wir haben sie gewählt und vertrauen ihnen, dass sie im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen treffen. Deswegen sind der Rückhalt in der Partei und die Geschlossenheit nach außen wichtige Signale für die Wählerinnen und Wähler. Nachvollziehbare Begründung der Entscheidungen in der Öffentlichkeit sind ein weiterer wichtiger Schritt bei dieser Art der Vertrauensbildung.

Gerade jetzt, nachdem die Demokratie selbst Thema der anstehenden Wahl geworden ist und die Öffentlichkeit die korrosive Wirkung der Merz’schen Kompromisslosigkeit debattiert, markiert Kompromissfähigkeit die Verteidigung der Demokratie. Darin können wir nur glaubwürdig sein, wenn wir thematisch keine eigenen roten Linien hochziehen. Für alle demokratischen Kräfte sollte es nur eine rote Linie geben, die Brandmauer zur AfD. 

Soweit so gut, aber das Ziehen roter Linien erfüllt noch eine weitere Funktion. Es dient der (individuellen) Selbstbeschreibung und ist identitätsstiftend. Die inhaltliche Forderung ist auch Ausdruck der Person und rote Linien werden dann zu einer Gewissensfrage. Bis hier hin ist noch genug ‚Gutes‘ drin, dahinter wird es falsch/schlecht/böse. Und den falschen Weg möchte man nicht mitgehen, selbst wenn er das Ergebnis einer Diskussion ist. Das eigene Gewissen wird dann quasi kompromisslos gegenüber der praktisch-argumentativen Abwägung.

Diese selbstreferenzielle Ebene ist notwendig und läuft in der politischen Meinungsbildung immer mit. Sie ist ein Korrektiv gegenüber einer politischen Rationalität, die sich ja auch gerne mal irren kann. Aber sie kann sich genauso in der Selbstbezüglichkeit gefallen und sich verselbstständigen. Dann geraten Fragen der Haltung und rote Linien zur Nabelschau, die nicht mehr nach der Wirkung fragt, sondern die Probleme der Welt darin zu lösen versucht, den höchstmöglichen moralischen Standpunkt zu markieren. Fragen der Machbarkeit werden dann irrelevant. Deswegen laufen rote Linien auch immer Gefahr, in der Öffentlichkeit als Praxisferne und moralische Anmaßung interpretiert zu werden.

Wenn die multiplen Krisen unserer Zeit tatsächlich ursächlich für die Demokratiekrise sind, wie oft gemutmaßt wird, dann sollten wir als Partei ein Höchstmaß an Pragmatismus verkörpern und unsere Kompetenz zur Problemlösung ganz nach vorne stellen. Ich glaube, dass viele Menschen genau das von der Politik erwarten. Meiner Meinung nach setzt das Einziehen roter Linien in dieser Situation das falsche Signal. Aber die Haltungen und Motive, die dem Bedürfnis nach roten Linien zu Grunde liegen, sind wichtig und brauchen den innerparteilichen Raum. Der entsteht allerdings erst dann so richtig, wenn nicht gleich auf die Konsequenz kurzgeschlossen wird. Ich hoffe, dass wir nach einem erfolgreichen Wahlkampf die Räume für diese Debatten haben werden.

Die „Meinung am Freitag“ (MaF) ist ein Meinungsformat der GRÜNEN im Land Bremen. Sie hat den Zweck, fernab von Veranstaltungen eine Kommentierung politischer, gesellschaftlicher oder parteiinterner Ereignisse zu ermöglichen. Die Beiträge geben stets ausschließlich die persönliche Meinung der Autor*in wieder, nicht die der gesamten Partei.

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