Sona Terlohr: Durchseuchung ist nicht inklusiv 27. Januar 2022 Ich habe kürzlich einen Kommentar von Imre Grimm gelesen, der es ziemlich auf den Punkt bringt: „Ich möchte nicht Teil einer Gesellschaft sein, die ihren Jüngsten mit großer Selbstverständlichkeit und ohne mit der Wimper zu zucken zumutet, sich von einem längst nicht für jeden harmlosen gefährlichen Virus bitteschön durchseuchen zu lassen […], weil Luftfilter halt einfach zu teuer sind und die Schulen bitte unbedingt aufbleiben sollen. Es wäre ein Leichtes gewesen, Schulen und Kitas für ein paar Millionen Euro technisch coronasicher zu machen. […]. Wenn es noch eines Nachweises bedurft hätte, dass dieses Land kein überbordendes Interesse am Wohlergehen seines Nachwuchses hat und auf moderne Bildung pfeift, hat Corona ihn erbracht.“ (Grimm, Kommentar, RND) Wir haben in Bremen bei den fünf bis 14-Jährigen eine Inzidenz von 3692 (Stand: 25. Januar 2022; Quelle). Die Schulen sind offen und es gilt Präsenzpflicht. Berlin hat uns mit den Infektionszahlen überholt. Dort ist die Präsenzpflicht nun aufgehoben. Schön ist das nicht, aber wenn versäumt wurde, die Schulen und Kitas sicher zu machen, ist es für diese Phase der Pandemie wenigstens irgendwas: Aufhebung der Präsenzpflicht unter Beibehaltung der Pflicht, am Unterricht teilzunehmen (wisst ihr noch, die tollen neuen iPad?) und gezielte Angebote für Kinder, die nicht aus der Ferne teilnehmen können. Es gibt kreative, ziemlich ausgefeilte Konzepte, die auch Sozialkontakte und die Gefahren von sozialen Defiziten mitdenken, z.B. in NRW, und die Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Es muss doch nicht immer auf „alles oder nichts“ hinauslaufen, also “Präsenz um jeden Preis“ versus „Schulen zu“. Warum die Alternativen, die auf dem Tisch liegen, nicht wenigstens ausprobieren? Und auch für das dann fehlende Mittagessen in der Schule gibt es gute Lösungsvorschläge, z.B. von Dr. Sonja Bastin. Die Bremer Soziologin schlägt vor, die Gastronomie einzuspannen und diese damit gleichzeitig zu unterstützen. Familien mit Infizierten oder Quarantänebetroffene müssen nicht auf sich allein gestellt bleiben – auch hier finde ich die Ideen von Bastin so einfach wie großartig, z.B. Gutscheine für Haushaltshilfen an Familien zu vergeben. Aber jetzt wird mir bestimmt wieder vorgeworfen, ich wäre privilegiert und darum pauschal für Schulschließungen. Nein, ganz sicher nicht. Ich sehe es wie Karin Christmann: „Ich finde es unerträglich, dass Menschen, die seit Monaten und Jahren darauf dringen, Schulen sicher zu machen, unterstellt wird, sie fänden Schulschließungen toll“, so die Redakteurin des Tagesspiegel. [raw_html_snippet id=“tagesspiegel zu schulschließungen“] Keine PCR-Tests mehr Jetzt also keine PCR-Tests mehr für alle, sondern nur noch priorisiert – wie läuft das dann mit dem Nachweis für die Unfallkasse, wenn mein Kind sich in der Schule infizieren sollte und Spätfolgen bleiben? Leiste ich mir dann die ca. 75 Euro für einen privaten PCR-Test? Meine Freundin könnte sich das nicht leisten, schon gar nicht für alle drei Kinder. Wieso haben wir im dritten Jahr der Pandemie nicht ausreichend PCR-Test-Kapazitäten? Oder eine seriöse Alternative? Welche Schnelltests werden denn in den aus dem Boden schießenden Testzentren (ehemals Wettbüro?) verwendet – ist es Platz 1 der Liste vom Paul-Ehrlich-Instituts oder gar ganz andere? Wie schneiden die in der Schule genutzten Tests ab? Die aus den Schulen meiner Kinder haben bei einer hohen Virenlast eine Sensitivität von 26 Prozent. Der Bremer Senat verteilt erneut 300.000 FFP2-Masken an Menschen mit niedrigem Einkommen. Gut. Warum wird das nicht schon lange in den Schulen gemacht? An jeder Klassentür sollte ein Karton mit FFP2-Masken stehen. An die Senior*innen haben wir Masken kostenlos verteilt. Gut. Lehrkräfte bekommen die auch. Warum nicht jedes Schulkind? Zulassungsprobleme? Echt jetzt? Warum gibt es noch keine Zulassung, aber jede Apotheke verkauft sie? Problem ist das Arbeitsschutzgesetz, das „Atempausen“ vorschreibt? Unterstehen Lehrkräfte nicht demselben Arbeitsschutzgesetz? Und wenn, warum gestalten wir den Schulalltag nicht entsprechend? Offene Fragen Die Liste der Fragen ist lang: Warum werden die S3-Richtlinien u.a. vom Robert Koch-Institut nicht umgesetzt? Wenn die Bildungsbehörde sagt, alle Schulen sind mit Luftfiltern ausgestattet – was ist mit den Kitas, und sind die Luftfilter ausreichend in Größe und Leistung (auf Raumgröße und Personenanzahl)? Wer macht die Einweisung (reicht Stufe 1, wenn Stufe 3 viel zu laut ist)? Wer wartet die Luftfilter und wann? Wann kommen die Impfmobile an (Grund-)Schulen? Wird die Booster-Impfung für Fünf- bis Zwölfjährige vorbereitet, ggf. off-Label (oder müssen wir uns auch dafür wieder konspirativ im Netz treffen und exkludieren damit Familien, die keine „Kontakte“ haben?) Gibt es immer noch Maskenausnahmen indoor in Schulen, z.B. zum Essen und Sport? Wie wäre z.B. Mittag to go, verschiedene Schichten zum Essen, Sport nach draußen verlagern usw.? Wie viele Kinder kommen zurzeit nicht zur Schule, weil sie Vorerkrankungen haben? Ist das die einzige Lösung, die wir an unseren inklusiven Bremer Schulen haben? Warum gibt es keine Transparenz, werden Eltern nicht informiert über die Infektionslage in der Schule, der Klasse, Kohorte oder Kitagruppe durch die entsprechende Institution? Ja, ich weiß, dass es ein Abwägen ist zwischen einer wahrscheinlich milden Infektion und anderen Folgen der Pandemie, wie z.B. Depressionen, Übergewicht oder Bildungsverlust. Aber ich verstehe nicht, warum dann nicht alles für den Infektionsschutz getan wird. Und ich verstehe auch nicht, wieso es keine Verschiebungen dieser Abwägungen in den verschiedenen Phasen der Pandemie gibt, z.B. jetzt in einer Hochphase der Pandemie eher auf den Infektionsschutz zu setzen und dafür eventuell zwei bis vier Wochen auf den Indoor-Sport ohne Masken zu verzichten. Spielt der tägliche Stress, Entscheidungen in der Familie und für die Kinder und Jugendlichen treffen zu müssen, auch in die Abwägungen mit hinein: Wie viele Kontakte sind ok? Chorsingen ist noch erlaubt? Geburtstagseinladung im Jump House vertretbar? Straßenbahn fahren in der Rushhour ein Risiko? Weihnachtstheaterstück im Goethetheater mit zig verschiedenen Schulen sicher (kann ich meinem Kind das antun, es nicht mitfahren zu lassen?) Die Sorge um ältere Familienmitglieder? Der Stress, den die Planungsunsicherheit in der Betreuung verursacht? Ja, ich weiß, dass die Coronainfektion für die meisten Kinder nicht schlimm ist. Ich finde aber die Studienlage zu Long-Covid nicht eindeutig entwarnend und fordere darum abzuwarten, bis wir sicher mehr über die entweder geringen oder signifikanten Risiken von Long-Covid wissen. So kann ich der aktuellen Durchseuchung nicht entspannt entgegenblicken. Solange Restaurants noch offen sind… Kinder infizieren sich in der Freizeit… Alles richtig, ich weiß. Aber Restaurantbesuche und Freizeitaktivitäten sind freiwillig, hier tragen die Eltern die Verantwortung und die persönliche Risikoeinschätzung. Schule aber ist nicht freiwillig, die Verantwortung trägt das Land Bremen. Übrigens: Wieso die Verantwortung für Schulen und Kitas ausschließlich bei der Bildungsbehörde zu liegen scheint und die Gesundheitsbehörde nicht involviert ist, verstehe ich auch nicht. Schulen sind systemrelevant? Noch ein paar Wochen müssen wir da durch, irgendwie, egal wie müde wir sind. Ab Ostern wird hoffentlich alles besser. Wir verabreden uns jetzt schon für einen entspannten Sommer. Und dann? Nutzen wir die Zeit bis zum nächsten Winter, um Schulen und Kitas „systemrelevant“ und damit sicher zu machen? Ich bringe mein Kind zur Schule und warte jeden Tag auf den Anruf der Schule – ist es heute soweit oder erst morgen, oder nächste Woche? Arbeiten und planen und leben mit gutem Gefühl, ist was anderes. Und es bleibt und bleibt einfach die schale Frage: Geht es hier wirklich um die Bildung der Kinder oder doch klammheimlich und leise um unsere Arbeitskraft? Wenn Kinder und Familien uns wirklich wichtig wären, könnten Schulen und Kitas sicherer sein und sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die dort Beschäftigen deutlich besser geschützt und unterstützt werden. Dass das nicht so ist, finde ich unerträglich. Dass das besser wird, finde ich unabdingbar. Sona Terloh, Mitglied des Landesvorstands von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bremen