Carsten von Wissel: 20,8 % und nun? Gedanken zum Bremer Wahlergebnis 7. Oktober 2021 Wir haben uns – verglichen mit 2017 – um mehr als 9 % verbessert. Und in der Östlichen Vorstadt, der Neustadt, in Mitte und Findorff wieder die Pole Position. Wir sind dennoch nicht nur bundes-, sondern auch stadtweit unter unseren Möglichkeiten geblieben: fast 4 %-Punkte schwächer als in Hamburg und 3 %-Punkte schwächer als in Hannover. 7 % schwächer als in Kiel, schwächer als in Lübeck oder Braunschweig. Kurz, wir sind in Bremen schwächer als in jeder anderen norddeutschen Großstadt mit mehr als 200.000 Einwohner*innen. Warum das im linken Bremen so ist, würde mich interessieren, und ich würde es für sinnvoll halten, wenn wir uns auf den Weg einer gründlicheren Ursachenanalyse machen würden. Eine im innerparteilichen Diskurs recht gern genommene Erklärung ist, diese relative Schwäche liege daran, dass wir in Bremen schon so lange mitregierten, deshalb seien die Verhältnisse in Bremen mit denen keiner anderen Stadt vergleichbar, aber eigentlich hätten wir auch hier ein gutes Ergebnis eingefahren. Wirklich? Und was genau ist damit gemeint? Bei Licht besehen finde ich diese Regierungsschwächethese wenig überzeugend, weil auch unklar bleibt, was sie benennen will und weil sie wenig, fast nichts m. M. n. leistet. Denn, welche Schlussfolgerungen sollte sie erlauben: Nicht regieren, anders regieren, aber wie anders oder halt Schwäche an den Urnen hinnehmen? Zunächst einmal scheint sie das Mitregieren, nicht das Regieren zu betreffen, denn die Partei, die in Bremen seit 70 Jahren regiert, ist nicht betroffen. Dann bedeutet sie entweder, dass wir nicht gut mitregieren oder Bremen für uns als Partei nicht gut mitregierbar ist (was in Hamburg z. B. anders zu sein scheint). Die Probleme, die sich für uns als kleinerer Koalitionspartner stellen würden, wären also entweder durch den größeren Koalitionspartner erzeugt oder durch strukturelle Faktoren im politischen System der Stadt. Dennoch halten wir an dem immer gleichen Koalitionspartner fest. Und auch an den immer gleichen Regierungskonstellationen. Für die aktuelle Legislaturperiode haben wir genau die gleichen Ressorts genommen wie in der Wahlperiode davor. D. h. wir stellen seit 10 Jahren die Sozialsenatorin und haben seit 14 Jahren die Ressorts für Umwelt, Bau, Verkehr und Stadtentwicklung sowie das Finanzressort. Nicht überall ist es gelungen, uneingeschränkt den Eindruck entstehen zu lassen, dass uns gutes Regieren gelingt. Dies ist möglicherweise deshalb umso augenfälliger, weil wir in der Sozial- und ja auch in der Finanzpolitik große Stabilisierungserfolge vorzuweisen haben. Auf das Zustandekommen der jetzt wieder dräuende finanzpolitischen Klippen (wie sie sich im Frühjahr bei der leidigen Notwendigkeit um die sogenannte zeitliche Streckung des Wissenschaftsplanes 2025 zeigten), hatten wir dann allerdings keinen Einfluss. Niemand in Bremen hatte den. Die Regierungsschwächethese bleibt zudem vage, was die tieferen Ursachen der vermuteten Schwäche betrifft, deshalb erlaubt sie anders als gute (wissenschaftliche) Thesen kein Weiterfragen. Liegt es an den Schnittstellen von Fraktion, Partei und Leuten in der Exekutive? Liegt es an einer organisationalen Widerständigkeit der senatorischen und zugeordneten Behörden, die sich Steuerungsversuchen der Hausspitzen immer wieder entziehen? Und warum gelingt ihnen das in Bremen offenbar besser als woanders? Liegt es daran, dass wir, anders als die SPD, in Bremen immer noch nicht die Staatspartei sind und in der Tiefe sozialer Räume immer noch weniger verankert sind? Und dann scheint mir die Regierungsschwächethese Ausdruck eines 20 %-Denkens zu sein, aus dem – wie gesagt – kein Weg herausführt. Als These ist sie leicht ausgesprochen wegen ihrer kommoden Nuscheligkeit, leider nur beschreibt sie nichts und erlaubt es nicht, Probleme einzukreisen und zu beheben, und sorgt damit dafür, Verhältnisse zu zementieren. Die Regierungsschwächethese fügt sich zudem recht nahtlos in ein Narrativ ein, nach dem die Wahl doch eigentlich ganz gut gelaufen sei. Auch dieses Narrativ dient dem Wegnuscheln eines Ergebnisses, das unter jedem Umfrageergebnis der vergangen drei Jahre lag. Wir haben doch mehr als das Eineinhalbfache des 2017er Ergebnisses geholt, heißt es dann bei jeder Gelegenheit. Es ist zwar einerseits nachvollziehbar, nach Sprachregelungen zu suchen, die die Partei als Organisation in Frieden mit sich selbst bringen, vielleicht ist das sogar für eine gewisse Zeit nötig, wenn eine Parteiorganisation mit eigenen Selbstwirksamkeitsdefiziten konfrontiert worden ist. Wenn diese Ruhe dann aber dazu dienen sollte, Diskursräume zu schließen statt zu öffnen, würde die Bilanz negativ. Umfragen werden da schon einmal zum Problem erklärt, das hohe Durchschnittsalter der Wählenden, ihr Konservatismus, Misogynie gegen die Kandidatin, die Geringfügigkeit der Fehler der Kandidatin, die Kampagne gegen sie … . Alles richtig, nur recht wenig davon hätten wir beeinflussen können und eigentlich ist davon wenig überraschend. Das Durchschnittsalter der Wählenden war schon vor der Wahl hoch und wird sogar noch steigen, bevor die Menschen aus den Boomer-Jahrgängen anfangen zu sterben, den Konservatismus kannten wir (die Leute haben wirklich phasenweise zu 40 % Unionsparteien gewählt), die Neigung, Kompetenz von Frauen zu bezweifeln, davon wussten wir auch, also haben wir mit alldem umzugehen. Die wirklich interessante Frage ist dann eher auch, wie wir auf diese sattsam bekannten Sachverhalte reagieren, denn sie werden nicht in der Geschwindigkeit verschwinden und uns wieder begegnen. Und bei der nächsten Wahl sind wir dann vielleicht Teil der Bundesregierung gewesen, der Anteil der Alten ist noch größer, gesellschaftlicher Konservatismus, egoistische Geldinteressen und Springer-Boulevardzeitungen sind immer noch nicht weg. Zugbrücken hochziehen und Einigeln wäre vermutlich das Falscheste, was geht, ein Opfermythos (Springerkampagne, Misogynie etc.), der keiner ist, auch. Eine Beschwörung des Scheinries*innenmythos (aka: wir sind immer in Umfragen stark und dann aber in der Kabine machen die Leute doch was anderes und folgen ihren Geldinteressen oder anderen niederen Beweggründen), dessen sich mit Vorliebe unsere Gegner*innen, in Entlastungsintention aber auch nicht wenige bei uns, bedienen, wäre auch falsch. Eine ehrliche Selbstwirksamkeitsreflexion wäre hingegen wichtig. Wo gelingt es, Grün zur Wirksamkeit zu verhelfen und wo und wie macht es einen Unterschied, wenn wir regieren? Diese Fragen sollten wir sehr bald sehr bremenspezifisch beantworten können. Ich möchte nicht in zwei Jahren am Wahlkampfstand stehen und den Leuten erklären müssen, dass wir zwar seit 16 Jahren das Ressort für Verkehr, Umwelt, Bau und Stadtentwicklung führen, aber leider alles so schwierig sei.