Hermann Kuhn zu :“8. Mai 1945: Niederlage, Befreiung?“

8. Mai 1945: Niederlage, Befreiung?

40 Jahre hat es nach dem Ende des Krieges gebraucht, bis der höchste Repräsentant der Bundesrepublik die Erkenntnis als Staatsräson formulierte, dass der 8. Mai 1945 ein „Tag der Befreiung“ für das deutsche Volk, nicht ein Tag der Niederlage sei. Lange hatte sich in der Bevölkerung das Gefühl der Niederlage gehalten, denn das Deutsche Reich hatte den Krieg – den die große Mehrheit der Deutschen ja mitgetragen hatte – ja tatsächlich verloren. Nur eine kleine Minderheit, die wenigen überlebenden Juden, die politischen Gegner, die Zweifler, erlebten unmittelbar und persönlich schon das Kriegsende als Befreiung.

Auch deshalb war die Kontroverse „Niederlage oder Befreiung“ zwar verständlich, aber zunehmend irreführend. Denn das Ende des Krieges war beides gewesen, wie sich immer mehr herausstellte: eine militärische, politische und moralische Niederlage Hitlerdeutschlands und Befreiung für die Deutschen, die nun die Chance für einen demokratischen Neuanfang erhalten hatten, den sie zunehmend nutzten. Man muss es noch klarer formulieren: Die Befreiung war nur möglich durch die Niederlage, und zwar durch die totale, in jeder Beziehung gründliche Niederlage.

Dass die Niederlage so umfassend war, hatte zur Folge, dass eine Rückkehr zum Status vor dem Krieg und der Niederlage zwar von politischen Gruppierungen zwar gedacht wurde, aber keine wirkliche Chance hatte. Eine Dolchstoßlegende wurde nach 1945 nicht verbreitet. Umso weniger, weil die westlichen Siegermächte – auch wegen des aufkommenden Kalten Krieges mit der Sowjetunion – die Fehler von 1919 nicht wiederholten. Sondern einen Weg der kontrollierten Hilfe und Integration wählten.

Dieser Weg war der Marshall-Plan und die Berliner Luftbrücke, natürlich. Aber es war vor allem der Weg der europäischen Integration und der Westbindung. Europäische Integration war immer eine Frage von Werten, von Aussöhnung und Überwindung des Nationalismus. Aber sie war auch immer eine Sache von harten Interessen: Der erste politische Schritt, die gemeinsame Aufsicht über die Montanindustrie, brachte Frankreich eine gewisse Kontrolle über die deutsche Schwerindustrie, und Deutschland die Rückkehr als respektierter Handelspartner.

Seither hat sich die europäische Integration in vielen Schritten zu einem Bund eigener Art entwickelt, in dem Souveränität geteilt wird und so gemeinsam mehr erreicht werden kann; aber die unterschiedlichen Interessen und Traditionen bleiben und stoßen bisweilen hart aufeinander. Die Freiheit, die die Deutschen durch die Niederlage 1945 erhalten haben, ist Freiheit durch Bindung, die nur durch Kompromisse leben kann.

„Frieden, Freiheit, Europa“ gehören deshalb zusammen, wie es die Europa-Union in Bremen für ihr Europa-Fest als Losung formuliert hat. Das Virus hat leider verhindert, dass sie auf dem Bremer Marktplatz in Vielfalt sichtbar werden kann.

Hermann Kuhn