Heidi Tilliger zu Corona, Reiserückkehrern und der Party-Jugend

Corona, Reiserückkehrer und die Party-Jugend

Ich war Ende Juli/Anfang August in Barcelona und habe mich dort hinsichtlich Corona sicherer gefühlt als hier.
Ich bin Europäerin und ich mag nicht schweigend zusehen, wie wir auf der einen Seite in einen neuen Nationalismus abdriften und gleichzeitig auf der anderen Seite durch Ignoranz und Egoismus Menschen in ihrer Gesundheit und ihrer Existenz gefährden.

Zur Situation in Spanien:
In den „Bundesländern“ Madrid liegen die Zahlen der letzten 7 Tage bei 234 Fälle pro 100.000, in Katalonien bei 84, in Asturias bei 25.
https://www.eldiario.es/sociedad/mapa-datos-coronavirus-espana-comunidades-autonomas-agosto-17_1_1039633.html

Und wie bei uns sind die Fälle natürlich nicht gleich verteilt. Es gibt einige Landkreise, wie beispielsweise der Ferienort Tossa de Mar in Katalonien, der seit Wochen immer wieder bei 0 Fällen liegt.
https://www.eldiario.es/sociedad/mapa-casos-confirmados-coronavirus-covid-19-espana-municipio_1_1466396.html

Teilweise waren bis zu 70% der Fälle asymptomatisch, d.h. die Infizierten zeigen keine Symptome. Viele der Infizierten sind junge Menschen. Aus diesem Grund ist die Situation in den allermeisten Krankenhäusern und Intensivstationen auch weiterhin normal.

Die Ursachen: man kann grob sagen, dass deutlich mehr als die Hälfte der Fälle auf das Nachtleben und größere Familienfeiern zurückzuführen sind, ohne Abstand, ohne Maske. Weiter gibt es erhöhte Fallzahlen bei Erntehelfern, die dicht gedrängt arbeiten und hausen. In Barcelona und Madrid sind die Fallzahlen in den armen Stadtteilen deutlich höher als in den reichen Stadtteilen. Insbesondere prekär Beschäftigte halten sich nicht an Quarantänen, weil sie ansonsten verhungern würden. Und als Ursache dafür, dass die Öffnung im Juni zu einem so schnellen Anstieg geführt hat gilt auch, dass es deutlich zu wenig Containment Scouts gab, um die Kontakte der Infizierten nachzuverfolgen.

Maßnahmen: Verschiedene Regionen hatten umgehend eine starke Beschränkung des Nachtlebens eingeführt, Rauchen im Freien ohne ausreichend Abstand wurde verboten, teilweise darf man sich nicht mit mehr als 10 Personen treffen, die Anzahl der Scouts wurde massiv erhöht. In Barcelona hat man in den letzten Tagen in den ärmeren Stadtteilen kostenfreie Massentests durchgeführt. Alle diese Maßnahmen waren insofern erfolgreich, dass sie die Ausbreitungsgeschwindigkeit bei ca. 1 gehalten haben. Leider haben nicht alle Kommunen schnell und gut reagiert, was sich direkt in massiv steigenden Infektionszahlen niederschlägt.

In Spanien spricht man weiterhin eigentlich nicht von einer zweiten Welle, weil eine Ausbreitungsgeschwindigkeit von ca. 1 bedeutet, dass „Flatten the Curve“ funktioniert und weil fast alle Krankenhäuser noch nicht im Stress sind. Aber natürlich ist die Nervosität zu Recht hoch. Denn in Spanien, genau wie in Frankreich und Italien hat man die Bilder aus März/April nicht vergessen und weiß, wie schlimme Folgen es hat, wenn man das Virus nicht Ernst nimmt.

Das Ziel war aber nie 0 Fälle und kann es auch nicht sein, denn dazu müssten wir unser menschliches Leben quasi komplett einstellen. Im zweiten Quartal wurden in Spanien 1 Millionen Arbeitsplätze vernichtet, über 1 Million Menschen sind noch in Kurzarbeit. Dazu kommen zahllose Insolvenzen von Unternehmen und Einzelselbstständigen. Der touristische Bann, den England und Deutschland sehr früh verhängt hatten, wird hunderttausende Existenzen oder mehr dauerhaft zerstören.

Neuer Nationalismus durch die Hintertür:
Wenn ich erzähle, dass ich in Barcelona war, und dass ich wieder hinfahre, blicke ich in schockierte „Wie kannst Du nur, wie verantwortungslos“-Gesichter. Wenn meine Kollegen dicht gedrängt ohne Maske im ungelüfteten Büro herumhängen, finden das viele völlig ok und ich werde schon wieder böse angeschaut, wenn ich das kritisiere. Ischa Bremen, in Deutschland gibt es kein Risiko… Und wenn, dann gibt es einen Schuldigen, den bösen Reiserückkehrer. Von 10.000 in Bremen getesteten Reiserückkehrern waren 20 positiv getestet, d.h. 9.980 waren es nicht. Und leider kenne ich keine Zahlen dazu, wieviele davon sich infiziert hatten, weil sie ungeschützt an größeren Feiern teilgenommen hatten.

Macht es aus Corona-Gründen Sinn, nicht zu verreisen? Das ist der Hintergrund, der uns mit diesen Maßnahmen suggeriert wird und er ist m.E. populistisch und zumindest teilweise falsch, weil oberflächlich.
Wo fängt reisen an und wo hört es auf?
Wenn es Sinn macht, nicht in Regionen zu reisen, in denen es erhöhte Fallzahlen gibt, dann muss diese Logik doch zumindest EU-weit einheitlich gelten. Die Reisewarnungen der Bundesregierung werden bisher nach Gutsherrenart vergeben. Sie erscheinen logisch, sind auch nicht völlig falsch. Aber auch nicht völlig richtig. Deswegen bitte ich Euch um einen zweiten Blick und genaueres Analysieren statt Bauchgefühl. Das Virus interessiert sich nicht für Staatsgrenzen. Wieso sollte es besser sein, wenn ein Norddeutscher 1.000 km nach Bayern in einen Landkreis mit mehr als 50/100.000 Fällen reist, als wenn ein Freiburger einen 50km entfernten Ort in Frankreich besucht, in dem es wenige Fälle gibt. Und gibt es eine Reisewarnung für ganz Niedersachsen, wenn im Landkreis Vechta ein Ausbruch in einem Schlachtbetrieb erfolgt? Wenn man Staatsgrenzen schließt, muss man dann konsequenterweise nicht auch Bundesländergrenzen schließen, und dann konsequenterweise Landkreisgrenzen? Was ist eine gute Reise, was ist eine böse Reise, wovon hängt das ab?
Macron hatte schon früh ein EU-weites Ampelsystem auf m.W. Landkreisebene vorgeschlagen, dass ich für sehr sinnvoll halte. Macht allerdings die neue Deutschtümelei und die Selbstbeschwichtigung der sicheren Heimat etwas schwieriger. Aber meine Heimat heißt weiterhin Europa. Und nicht weil ich leichtsinnig wäre und mir die Konsequenzen egal wären. Ich nehme das Virus sehr viel ernster, als die meisten in Deutschland Wohnenden, die ich kenne.

Der Lockdown der Staatsgrenzen hatte über Monate auch Freunde, Familie, Paare getrennt und die europäischen Politiker waren sich einig, dass das eine falsche Reaktion war. Doch kaum steigen die Zahlen wieder, wird implizit in die gleichen Muster zurückverfallen. Und das, obwohl wir heute so viel mehr über die Ansteckungswege und den Schutz wissen. Eine Reisewarnung kommt durch ihre faktische Wirkung der Einschränkung der Reisefreiheit sehr nahe. Und sie verhindert nicht nur Spaß-Urlaube, sondern trennt auch Familien und Freunde. Wie stände es um die deutsch-französischen Beziehungen ohne die vielen Schüleraustausche? Wie viel weniger würden wir uns heute als Europäer*innen sehen, ohne Erasmus. Die fehlende Reisefreiheit war für viele DDR-Bürger*innen einer der größten Schmerzen.
Wenn wir schon ein so hohes gut wie die Reisefreiheit einschränken
(und damit für grenznahe Orte auch die Bewegungsfreiheit) dann bitte zeitlich und räumlich sehr eng begrenzt, nach einem nachvollziehbaren System, mit kontrollierten Ausnahmen für enge Familienangehörige und Paare, EU-weit einheitlich und nicht nach Gutsherrenart, getrieben durch die Bildzeitung. Urlaub in Deutschland ist nicht pauschal besser als etwas „ausländisches“, 70cm Abstand am Timmendorfer Strand sind aus Coronasicht nicht besser als 3m in Tossa de Mar.

Wie sehr sollten wie unseren Bewegungsradius einengen? Das ist ja nicht nur eine Frage des Reisens, sondern eine, die wir uns bei jeder Handlung in unserem Alltag stellen müssen. Was Sinn macht, um die Infektionskurve flach zu halten ist, möglicht wenig unterschiedlichen Leuten näher zu begegnen. Das kann man zuhause genauso schlecht machen, wie auf Reisen. Es ist eine Frage des individuellen Verhaltens und der rechtlichen Rahmenbedingungen. Ich habe mich in Barcelona sehr sicher gefühlt, weil im Alltag alle Menschen überall im öffentlichen Raum zu jeder Zeit Maske tragen, und zwar nicht nur am Kinn, weil sie Abstand halten und das auch am Strand ausgezeichnet geklappt hat.

Wie überflüssig sind Urlaubsreisen wirklich?
Kurzfristig ist die Vermeidung von akuter Krankheit und Tod natürlich wichtiger als alles andere. Aber wir stecken jetzt seit einem halben Jahr in der Coronakrise und werden es wohl noch deutlich mehr als ein weiteres halbes Jahr sein. Über einen so langen Zeitraum können wir nicht einfach die Folgen für die seelische Gesundheit außer Acht lassen, die zudem letztlich häufig auch die körperliche Gesundheit beschädigen.
Es ist leicht, als gut verdiendende Akademiker*in mit Häuschen und Garten zu sagen „ich bleib zuhaus“. Aber es sind gerade die, für die wir vor ein paar Monaten noch geklatscht haben, die vielleicht in einer kleinen Wohnung ohne Balkon leben, die mal raus müssen. Krankenschwestern, Pflegekräfte, Supermarktkassierer*innen. Familien, die auf kleinem Raum Homeoffice und Homeschooling unter einen Hut bringen mussten und gestresst sind. Wir können uns nicht auf der einen Seite über häusliche Gewalt und Einsamkeit sorgen, und auf der anderen Seite über überflüssige „Freizeitvergnügen“ die Nase rümpfen.

Wie relevant ist der wirtschaftliche Schaden in unseren Entscheidungen?
Wenn wir alle nur noch zuhause bleiben, gehen Unternehmen insolvent, verlieren Selbstständige alle ihre Ersparnisse, werden Menschen arbeitslos und finden vielleicht nie wieder einen neuen Arbeitsplatz. Das trifft insbesondere die Gastronomie, Hotels und die Kultur extrem hart. Aktuell fühlt es sich vielleicht an, als wäre die Wirtschaft auf dem Wege der Erholung, aber das Schlimmste steht uns noch bevor, da die Insolvenzen nur aufgeschoben wurden und vielen Unternehmen und Selbstständigen bald die finanzielle Puste ausgehen wird. Wenn Spanien noch ein Jahr ohne Touristen klarkommen muss, wird es womöglich ein zweite-Welt-Land sein.
Natürlich bleibt es ein Spagat des Abwägens. Aber es geht hier nicht nur darum, ob ein Großkonzern 2 Prozent mehr Gewinn macht oder nicht. Es geht hier um die Zerstörung von vielen menschlichen Existenzen, viele davon dauerhaft. Ein/e Hotelangestellte/r, die heute ihren Arbeitsplatz verliert, wird keinen neuen finden und nicht genug Ersparnisse haben, um ein paar Monate oder Jahre zu überbrücken. Armut und Existenzängste können genauso krank machen wie das Virus. Es wird Menschen geben, die nur deswegen in Scheidungen, Selbstmorden, Obdachlosigkeit enden. Das sollte m.E. nicht einfach pauschal in allen unseren Entscheidungen zurückstehen.
Vor allem wo uns Maske & Abstand & Outdoor gewisse Handlungsspielräume geben.

Die Party-Jugend
Die Jugend von heute, alles verantwortungslose Partymacher 😉
Es ist wirklich traurig, dass man es überhaupt schreiben muss, aber: nicht alle Jugendlichen machen verantwortungslos Party. Die große Mehrheit der Verantwortungsbewussten schafft es mit ihrem „Normalverhalten“ aber nicht in die Medien.
Und „Party machen“ ist für jungen Menschen essentiell wichtig, kein Nice 2 Have, das 1-2 Jahre warten kann. Der erste Kuss, der erste Freund, herausfinden wohin die Reise des eigenen Lebens gehen soll. Freunde treffen ist für Junge Menschen der Zug, auf dem sie in ihr Erwachsenenleben fahren. Und es reicht nicht aus, dass wir sagen „Ihr wartet jetzt mal noch 1 Jahr hier vor dem Bahnhof“. Ich hätte mit 20 vermutlich auch zu den Verantwortungslosen gehört, aber mit der richtigen Ansprache hätte man mich einfangen können.
Wir machen es uns zu leicht, immer nur zu wiederholen, dass man Maske tragen muss und Abstand halten muss und diejenigen als doof darzustellen, die das nicht tun. Stattdessen erklären wir m.E. nicht für alle ausreichend, wie sich das Virus verbreitet und warum Maske und Abstand so hilfreich und wichtig sind. Und wir reden viel zu wenig darüber, wie wir Coronaschutz und soziales Leben miteinander in Einklang bringen können. Soziale Isolation ist wider die menschliche Natur und macht uns alle krank.

Kontrolle und Bußgelder
Die Spanier tragen auf der Straße m.E. nicht deswegen alle so konsequent und korrekt die Maske, weil sie so viel aufgeklärter und verantwortungsbewusster wären. Sondern weil es Pflicht ist und weil im Straßenbild sehr viele Ordnungskräfte präsent sind, die sehr konsequent 100 € Bußgeld verhängen. In Deutschland würde auch die wenigsten im Supermarkt Maske tragen, wenn es nicht Pflicht wäre. Und die wenigsten würden sich an Tempo 50 in Innenstädten halten, Gurt anlegen etc wenn es nicht Pflicht wäre und Bußgeld kosten würde. Ich bin froh, dass die meisten Deutschen strengere Kontrollen der Regeln begrüßen.

Heute Maske tragen rettet morgen Menschenleben, Arbeitsplätze und Existenzen. Maske tragen stellt Solidarität über Egoismus. Leben, Gesundheit und Existenzen anderer über eine kleine persönliche Unbequemlichkeit. Und ähnlich wie beim Impfen: nicht jeder kann eine Maske tragen. Jeder der es kann und tut, schützt damit auch diejenigen, die es nicht können und unsere Herde insgesamt. Ich finde, nie war es einfacher, etwas Gutes zu tun.
Abstand anstatt Maske sehe ich allerdings sehr kritisch. Zum einen glauben die meisten Menschen im Alltag 70cm seien 2 Meter. Zum anderen wissen wir mittlerweile viel mehr über den Effekt der Aerosole, so dass 1,5m Abstand in Innenbereichen alleine nicht mehr als sichere Maßnahme angesehen werden können.
Also am Besten Maske und Abstand und Lüften, Lüften, Lüften.

Eine Reisempfehlung?
Ich verstehe, dass die meisten jetzt nicht mehr ins Ausland reisen, weil sie sich sorgen oder Angst haben. Das ging mir vor meiner Reise nach Barcelona ganz genauso. Erst die Erfahrung vor Ort hat mir gezeigt, wie sicher ich mich dort fühle.
Ich werde dieses Jahr wieder nach Barcelona fahren und freue mich schon darauf.

Wie viel Schritte in die – hoffentlich vorübergehende – neue Normalität man sich traut, wie viel Risiko man eingeht, ist eine sehr persönliche Entscheidung, die nur jeder für sich selbst treffen kann. Natürlich kann ich keine Reisempfehlung aussprechen, noch dazu eine unbeschwerte. Aber nicht jede Reise ist riskant und nicht jede Nicht-Reise ist es nicht. Ich bitte Euch nur darum, die tatsächlichen Risiken abzuwägen. Die EU ist immer noch das erfolgreichste Friedensprojekt, das wir haben. Und das lebt vom Zusammenhalt.

Liebe Grüße, un abrazo
Heidi

PS: ich habe hier die erschwerte Situation der Gehörlosen außen vor gelassen, weil ich darüber nicht wirklich viel weiß. Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht. Ich würde mich daher über Kommentare freuen, wie wir Infektionsschutz und Barrierefreiheit besser unter einen Hut bekommen können.